Rezensionen Rezensionen: «Im Reich des Goldenen Drachen»

München/dpa. - Es gibt wundersame Begebenheiten, unerklärliche Phänomene, atemberaubende Abenteuer und einen alles überragenden Glauben an irdische Menschlichkeit und höhere Mächte: Isabel Allende wird in ihrem neuen Roman «Im Reich des Goldenen Drachen» zur Weltenwanderin zwischen Himalaja und Amazonas, zwischen Mystik und Wirklichkeit. Wie gewohnt, spielt ihre Geschichte auf mehreren Ebenen, bis diese irgendwann zusammentreffen. Ungewöhnlich jedoch ist der ausgeprägte Märchencharakter im Stil eines modernen Abenteuerromans.
Schon oft hat die chilenische Autorin in ihren Werken der Übersinnlichkeit einen hohen Stellenwert eingeräumt («Das Geisterhaus»), aber noch nie mit seltsamen Ereignissen und Erscheinungen, die in der Neuzeit entweder als erklärbar oder als Fabel gelten, so groß aufgefahren: «Im Reich des Goldenen Drachen» helfen Menschen den Yetis zu überleben und umgekehrt, ist Telepathie die Sprache zwischen Personen, die aus verschiedenen Welten stammen, ist Seelenwanderung keine buddhistische Glaubensfrage, sondern eine Selbstverständlichkeit, können Geist und Körper in anderen Daseinsformen agieren, weisen Orakel den Weg.
Dil Bahadur, der Thronfolger im Reich des Goldenen Drachen, wird vom Lama Tensing auf seine spätere Berufung als König vorbereitet. In der Abgeschiedenheit der hohen Berge im Himalaja muss er schwere Prüfungen bestehen, seinen Körper stählen und seinen Geist zur Weisheit erziehen. In einem anderen Teil der Welt, im abgelegensten Dschungel am Amazonas, entdeckt derweil der junge Amerikaner Alexander an der Seite seiner Abenteuer verrückten Großmutter Kate nicht nur das Leben, sondern auch dessen ungerechte Seiten. Zurück in den USA, setzen er und Kate sich für eine bedrohte Indianerart ein. Seltsame Verstrickungen führen die beiden schließlich zusammen mit weiteren Protagonisten an das andere Ende der Welt, ins Reich des Goldenen Drachen.
Der Zufall will es, dass sie just zu dem Zeitpunkt dort aufkreuzen, als böse Mächte das kleine friedliebende Land zwischen Bhutan, Tibet und Indien bedrohen. Dessen Statussymbol, ein goldener Drache, soll entführt werden. Immerhin sagt man der Drachenstatue, die außer den Königen noch nie ein anderer Mensch je zu Gesicht bekommen hat, besondere Kräfte nach: Sie soll ein Orakel sein und in schwierigen Situationen stets den rechten Weg weisen. Grund genug für geldgierige Potentaten zwischen den USA und Japan, die goldene Statue zu stehlen, um sie für sich und ihre Machtpläne zu nutzen.
Ein Gerüst für spannende Abenteuer, das Allende zu einem ungewöhnlichen Gebilde ausbaut - dank ihrer Kunst, den Spannungsbogen in mehrere Stränge zu teilen. Jeder für sich könnte eine Geschichte allein tragen, doch als ein geschlossenes Gewebe bilden sie ein Meisterwerk. Aber es ist nicht allein die Mischung aus Mystik und Moderne, die das neueste Werk der Chilenin zu einer atemberaubenden Geschichte werden lässt. Und es sind auch nicht nur die anschaulichen detaillierten Beschreibungen von Mensch und Natur, die den Leser dank der großen Erzählkunst der Autorin unmittelbar am Geschehen teilhaben lassen. Es ist auch die Botschaft, die aus dem «Reich des Goldenen Drachen» herüberkommt: Nur dort, wo der Mensch Natur und Umwelt über Geschäfte, Macht und Geld stellt, ist ein Leben in Harmonie und Frieden möglich.
Das ist sicher keine neue Erkenntnis. Doch durch die Art und Weise, wie sie dem Leser vermittelt wird, ist sie einleuchtend und hinterlässt vielleicht auch Spuren. Und daher ist das zweite Jugendbuch Allendes auch keine, nur diese eine Zielgruppe ansprechende, Abenteuerlektüre, sondern sie fesselt ebenso Erwachsene - von der ersten bis zur letzten Zeile.
Isabel Allende: Im Reich des Goldenen Drachen. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Carl Hanser Verlag, München, 356 S., Euro 16,90. ISBN 3-446-20337-0