Im Osten was Neues Reclam: Erstmals wird die Geschichte des Verlages erzählt

Halle (Saale) - 1979 begann das Wettrennen um die erste Veröffentlichung eines Grass-Buches in der DDR. Die Zeit schien günstig, den „Blechtrommel“-Autor, der seit der Uraufführung seines 17.-Juni-Trauerspiels „Die Plebejer proben den Aufstand“ im Jahr 1966 als im Osten nicht publizierbar galt, den Lesern zwischen Arkona und Zwickau vorzustellen.
Der Aufbau Verlag preschte voran. Er wollte 1979 die literaturhistorische Erzählung „Das Treffen in Telgte“ in sein Programm ziehen. Das Buch war in Grassens Hausverlag Luchterhand erschienen, der als „VEB Luchterhand“ belächelt wurde, weil hier zahllose DDR-Schriftsteller zu Lizenz-Ausgaben kamen. Ein DDR-Gutachter bescheinigte dem Buch, ein „Kleinod an realistischem Erzählen“ zu sein, obwohl Grass „ideologisch gesehen ein Neukantianer und politisch ein Bernsteinianer“ sei, also ein rettungsloser Reformist.
Hoffen auf G. G.
Der Reclam Verlag in Leipzig zog nach, den Verlag Volk & Welt dicht auf den Fersen. Aber die SED-Führung zögerte. Man hatte Angst vor dem Politiker Günter Grass, der 1983 bis 1986 die Westberliner Akademie der Künste führte. Andererseits hatte der sich vergleichsweise pflegeleicht an den ost-west-deutschen „Begegnungen zur Friedensförderung“ 1981 und 1983 beteiligt.
„Wenn G. G. wohlwollend“ - also politisch botmäßig - sei, hieß es 1984 aus der DDR-Hauptverwaltung Verlage, dann dürfen die Bücher kommen. Sie kamen: 1984 „Das Treffen in Telgte“ bei Reclam, „Katz und Maus“ bei Volk & Welt, die 1986 auch „Die Blechtrommel“ druckten. Aufbau ging leer aus. Der DDR-Renommier-Verlag sollte der Grass-Idee von der einen deutschen Kulturnation kein Podium bieten. Man behandelte Grass nicht wie einen deutschen, sondern wie einen ausländischen Autor von Rang.
Wer in der DDR las, der las auch Reclam
Dass Reclam Leipzig zum Zuge kam, war dem wendig-findigen Verleger Hans Marquardt (1920-2004) zu verdanken, einem studierten Journalisten. Eigentlich wollte der SED-Kader Defa-Dokumentarfilme drehen, aber die Partei führte ihn 1953 dem Verlag zu, den er von 1961 bis 1987 leitete. Wer der Mann mit dem Stasi-Decknamen „Hans“ und was sein Verlag war, ist jetzt näher zu betrachten. „An den Grenzen des Möglichen“ heißt das von Ingrid Sonntag herausgegebene Buch mit mehr als 50 Aufsätzen, die erstmals die Geschichte des Ost-Reclam Verlages von 1945 bis 1991 aufblättern - mehr pointiert fallgeschichtlich als aufs Ganze gesehen analytisch orientiert.
An den Grenzen des Unmöglichen wäre der treffendere Titel gewesen. Denn es ist eine von Anfang an ruhelose, auch halb-seriöse, von politischen Stromstößen durchzuckte Geschichte. In Leipzig war der Verlag, der vom Nachdruck rechtefreier Literatur lebte, 1828 gegründet worden. Zwar war 1943 das Bürohaus zerstört worden, aber die Druckerei hatte sich erhalten. Die arbeitete noch, nachdem die Russen 80 Prozent demontiert hatten. 1947 gründete der Eigentümer Ernst Reclam eine Filiale in Stuttgart, die er 1950 zum Stammsitz machte. In Leipzig lief die Produktion weiter, nicht als Volkseigener Betrieb, sondern Kommanditgesellschaft.
Rund 150 Titel im Jahr brachte der Reclam Verlag heraus, der als Pendant zum westdeutschen Rowohlt-Taschenbuchverlag nicht falsch bezeichnet ist. Wer in der DDR las, der las auch Reclam. Vor allem in den 1970er und 1980er Jahren war das Haus von Interesse. Hier tauchten Autoren wie Wolfgang Hilbig und Heiner Müller, Adolf Endler, Reiner Kunze und Sarah Kirsch auf. Das war im Osten was Neues. Die Ausgaben der von Fritz Mierau betreuten russischen Literatur sind legendär. „Man versuchte, den ,haut gout’ des Nachdruck-Verlages loszuwerden“, schreibt Mierau.
Marquardt, der lieber den Kiepenheuer Verlag geführt hätte, handelte mit Schläue. Einerseits politisch aalglatt, andererseits kaufmännisch ehrgeizig, ließ er seine Lektoren gewähren. Zu denen gehörten politisch unsichere Kantonisten wie der Bloch-Schüler Jürgen Teller und der Germanist Hubert Witt.
Reclam gegen Suhrkamp
Das Lesebuch, das Autoren wie Wolfgang Emmerich, Frank Hörnigk und Uwe Kolbe versammelt, bietet ein Leipziger Allerlei an Fakten und Meinungen. Interessant, wie Christa Wolf 1963 eine Seghers-Biografie zu schreiben versprach und an der Verschwiegenheit der Autorin scheiterte. Erschütternd, wie Reclam die eigene „Lesezeichen“-Ausgabe von Walter Benjamin-Essays in den Sand setzte. Man hatte Suhrkamp als Lizenzgeber zugesichert, Vor- und Nachwort autorisieren zu dürfen. Nicht nur, dass das nicht geschah, man beschimpfte im Buch den Lizenzgeber als editorisch unseriös. Suhrkamp stoppte 1970 das teilausgelieferte Buch. Zu Recht. Erst 1984 kam der erste DDR-Benjamin bei Reclam auf den Markt. Vertrauenswürdiges Verlegen ist etwas anderes. Dem 1956 geschassten Aufbau-Chef Janka wäre das nicht passiert.
An den Grenzen des Unmöglichen auch hier. Das interessierte die Stuttgarter Reclam-Erben wenig. Sie entsorgten 1991 den Konkurrenten. 2006 wurde das Leipziger Büro geschlossen. Der Ost-Verlag wurde, wovon er lebte: Literaturgeschichte.