Provokatorische Thesen zur deutschen Geschichte
Hamburg/dpa. - Altersmilde ist Hans-Ulrich Wehler beileibe nicht. Der 76-Jährige, einer der renommiertesten deutschen Historiker, hat den fünften und abschließenden Band seiner «Deutschen Gesellschaftsgeschichte» mit provozierenden Thesen gewürzt - und damit eine kontroverse Debatte ausgelöst.
Es ist der Abschluss eines wissenschaftlich ambitionierten und dabei gut lesbaren Großprojekts, das vor mehr als 25 Jahren begann. Band fünf behandelt die Geschichte von Bundesrepublik und DDR von ihrer Gründung 1949 bis zur Wiedervereinigung 1990.
Wehler unterstreicht eindrucksvoll seine Forderung, dass Historiker den Elfenbeinturm des Aktenstudiums häufiger verlassen sollten. Was ihm Kritiker vorwerfen: Er beharre allzu konsequent auf seinem strukturgeschichtlichen Ansatz, so dass Geschichte blutleer und ohne konkret handelnde Menschen erscheine. Modernere historiographische Strömungen wie die neue Kulturgeschichte oder Alltagsgeschichte lehnt Wehler als wenig erkenntnisfördernd weitgehend ab.
Nicht nur Wehler (Jahrgang 1931) ist Zeitgenosse der jüngsten Geschichte, und das regt zu Widerspruch an. Diese Geschichte «qualme» noch, wie der Jenaer Historiker Norbert Frei in der «Neuen Zürcher Zeitung» treffend schrieb.
Zum einen geht es um die Bilanz von 40 Jahren DDR, die Wehler «eine sowjetische Satrapie» nennt, «die in letzter Instanz auf den russischen Bajonetten beruhte». Sie sei eigentlich von Beginn an zum Scheitern verurteilt gewesen, mit der unfähigen SED-Parteispitze, einer «linkstotalitären Diktatur» ohne Meinungsfreiheit und ihrer Planwirtschaft samt unfähiger Bürokraten. Die ostdeutsche Schriftstellerin Monika Maron bemängelte in der «Frankfurter Allgemeinen», bei Wehlers Blick vom «kläglichen Ende» der DDR her fehle das Innenleben der DDR, und im Kapitel zur Kultur tauchten weder Bertolt Brecht noch Uwe Johnson auf.
Der Historiker wies Marons Vorwürfe am Freitag im Deutschlandradio Kultur zurück und verschärfte sein Urteil noch: «Die Natur weithin zerstört, Millionen Menschen ihrer Lebenschancen beraubt, Hunderte wie Karnickel abgeschossen, Tausende in den Konzentrationslagern, 300 000 allein durch die Stasi-Keller geschleift», so Wehler über das «Intermezzo» DDR, und fügte hinzu: «ökonomisch völlig gescheitert, in vielen Köpfen den Ideenmüll eines späten Marxismus und Kommunismus.»
Wehler ordnet im Buch seine pointierten Erkenntnisse in seine nüchterne Gliederung ein, die er seit dem ersten Band (1987) benutzt. Seine Analyse basiert auf vier an den Soziologen Max Weber angelehnte «Achsen der Wirtschaft, der Sozialen Ungleichheit, der politischen Herrschaft und der Kultur». Doch so bravourös die Synthese eines riesigen Bergs an Forschungsergebnissen (mit mehr als 70 Seiten eng beschriebener Anmerkungen) ist: Der Leser sucht auf kulturellem Gebiet etwa die Bedeutung von Musik und Literatur fast vergeblich. Und einzelne Menschen verschwinden in den «langfristigen Strukturen» deutscher Geschichte.
Widerspruch ruft auch schon jetzt Wehlers sehr kritische Darstellung der Studentenbewegung um 1968 hervor. Das Urteil über sie sei «platt wie sonst nirgends», meint etwa Norbert Frei. Wehler, emeritierter Professor der damals gegründeten Universität Bielefeld, sieht in 1968 ein «legendenumranktes Phänomen»: Als sichtbare Erfolge sind seiner Meinung nach eigentlich nur ein Beitrag zur «Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft» sowie eine «Lebensstilrevolution» geblieben.
Was Wehler bei einigen Aspekten abgeht, kann man ihm hingegen bei den Kapiteln über die Wirtschaft, Politik und Soziale Ungleichheit nicht vorwerfen. Der 76-Jährige beschreibt den Aufbau des Wohlfahrtsstaats im Westen und zeigt, wo die heutigen Probleme hoher Sozialausgaben wurzeln. Zudem weist er darauf hin, dass etwa bei den Bildungschancen trotzdem «Ungleichheitsgrenzen» bis heute kaum aufgelockert werden konnten. «Besaßen Akademikerkinder 1950 aufgrund ihrer sozialen Herkunft eine zwanzig Mal höhere Chance auf ein Studium als Arbeiterkinder», rechnet Wehler vor, «hatten sie auch 1990 noch eine fünfzehn Mal bessere Chance.»
Grundsätzlich hält Wehler die zweite Demokratie auf deutschem Boden für einen Erfolg, auch wenn er ihn selten an herausgehobenen historischen Gestalten, höchstens noch Willy Brandt und Helmut Schmidt, festmacht. Er sieht aber, als Abschluss des gesamten Werks, die Bundesrepublik vor einer «Bewährungsprobe», mit einem neuen «ethnischen Subproletariat» und der Aufgabe, den «Turbokapitalismus der Globalisierung» einzufangen, so dass er dem Ruf nach einem «schlanken Staat» eine Absage erteilt.
Schon die zustimmenden wie äußerst kritischen Reaktionen der vergangenen Tage zeigen eines: Wehlers Gesellschaftsgeschichte mit ihren insgesamt rund 5000 Seiten ist ein Werk, mit dem, wie der Freiburger Historiker Ulrich Herbert schreibt, «jeder, der sich mit der Geschichte der vergangenen 200 Jahre in Deutschland beschäftigt», seine Lektüre beginnen müsse.
Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe (Frankfurt/Main) hingegen warnt in der «Frankfurter Rundschau», Wehlers Buch solle eher als «politischer Essay» gelesen werden, in dem dieser auch autobiografisch die Generation derer lobt, die kurz nach dem Krieg die Bundesrepublik aufbauten. Sein Kollege Manfred Görtemaker wiederum hat sogar gefordert, Wehlers fünfter Band solle «Pflichtlektüre für alle Deutschen sein.»
Hans-Ulrich Wehler
Deutsche Gesellschaftsgeschichte
Bd. 5:Bundesrepublik und DDR 1949-1990
C.H. Beck Verlag, München
529 S., 34,90 Euro
ISBN 978-3-406-52171-3