Protokoll des Missbrauchs Protokoll des Missbrauchs: Der Roman "Vogelfalle" berührt eines der letzten Tabus

Halle (Saale) - Das ist ein Buch, das einem die Beine weghauen kann. Den Atem nehmen. Und es ist verdammt gut geschrieben. Seine Sprache hält den im Mitteldeutschen Verlag erschienen Roman „Vogelfalle“ von Eva-Maria Otte erzählerisch souverän im Literarischen und bewahrt ihn vor der Kolportage, der schieren Illustration des spektakulären Themas.
Es geht der Autorin, die lange als Professorin an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch gearbeitet hat und nun mit Anfang der Siebzig ihr spätes Prosa-Debüt vorlegt, um nichts weniger als einen Tabubruch. Einen doppelten sogar.
Thema ist sexueller Missbrauch von Ärzten an Patienten
Sexuellen Missbrauch und die damit verbundene psychische Folter aus der Sicht eines Opfers zu erzählen, wunderbar einfühlsam zwar, aber bisweilen auch fast grausam präzise, ist das eine Tabu. Das andere betrifft den Täter.
Er ist Arzt. Einer der quasi heilig gesprochenen, von Laien unberührbaren und angebeteten Zunft, deren Angehörige alle einen Eid geschworen haben. Dieser ethischen Verpflichtung, den Menschen zu dienen, fühlt sich auch die große Mehrheit der Mediziner verpflichtet.
Ärzte haben Macht über Patienten
Aber sie haben eben auch große Macht über ihre Patienten. Was, wenn einer sie aus niederen Beweggründen benutzt und sich einen perversen Vorteil verschafft? Eva-Maria Otte hat recherchiert und Zeugnisse dafür gefunden.
Darüber zu schreiben, bleibt gleichwohl ein heikles Unterfangen. Der Autorin ist die Gratwanderung erzählend gelungen, weil sie sich sehr stark auf die Psyche des Opfers bezieht, das sich dem überlegenen Täter nicht zu entziehen vermag und in immer stärkere Abhängigkeit, Willenlosigkeit und tiefe Depressionen gerät.
Roman „Vogelfalle“ beginnt harmlos
Dabei fängt alles ganz harmlos an. Hanna ist eine erfolgreiche, nicht mehr blutjunge Schauspielerin, die, man ahnt es dann erst und versteht es immer besser, durchaus unter Selbstzweifeln und Unsicherheit leidet.
Und das, obwohl es ihr, formal gesehen, glänzend geht. Die Karriere stimmt, der berufliche Erfolg ist da, die Beziehung zu Konrad, ihrem Mann, ist gut. Selbst nach Jahren des Zusammenseins schlafen sie noch lustvoll miteinander. Und haben Vertrauen in den jeweils anderen.
Wenn nur dieser gelegentliche Rückenschmerz nicht wäre. Eine Freundin, die gerade auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen ist, hatte Hanna in den Monaten zuvor wiederholt zur Konsultation eines Orthopäden geraten, schließlich geht sie eher widerstrebend hin.
Protagonistin von „Vogelfalle“ erlebt Tour des Grauens
Was folgt, ist eine grausam durchdachte, psychologisch perfide gebaute Tour des Grauens. Noch während sich Hanna fragt, weshalb sie eigentlich splitternackt vor dem Mann sitzen soll, hat sie sich doch, wie willenlos, entkleidet.
Und sie weiß auch, oder ahnt es immerhin: Was dieser Mann an ihr untersucht, kann nicht wirklich mit ihrem Rückenproblem zu tun haben? Oder doch? Mehr und mehr gerät die Frau in völlige Abhängigkeit.
Ekel, Scham und Selbsthass wachsen, ihre sozialen Beziehungen beginnen sich aufzulösen, die Arbeit macht unendliche Mühe. Es könnte sein, dass die Frau stirbt, wenn niemand ihr die Kraft zur Rettung gibt.
Die Pointe des Romans, den man nicht aus der Hand legen mag, obwohl man zwischendurch auch mal wünschte, ihn gar nicht erst zu lesen begonnen zu haben, soll hier nicht verraten werden. Nur zwei Sätze, die zu den schönsten des Buchs gehören. Hanna und Konrad, ihr Mann, sind am Ende beieinander: „Ich liebe dich, denkt sie. Wir sterben gerade und ich liebe dich.“ (mz)
Eva-Maria Otte: „Vogelfalle“, Roman, Mitteldeutscher Verlag, Halle, 192 Seiten, 16 Euro
