Preisgekrönt: "Das Verschwinden des Josef Mengele"

Berlin - Wenige Nazi-Schergen waren so berüchtigt wie Josef Mengele (1911-1979), der Lagerarzt von Auschwitz. Er war verantwortlich für tausendfachen Mord und bestialische medizinische Experimente an Häftlingen.
Nach dem Krieg gelang dem „Todesengel von Auschwitz” die Flucht nach Argentinien. Immer wieder konnte er seinen Häschern entkommen, und je weniger greifbar der ehemalige Lagerarzt war, umso mehr schwollen Legenden und Gerüchte an. Mengele wurde zum berühmtesten Phantom seiner Zeit und er selbst zum finsteren Dämon.
Erst 1985 erfuhr die Welt, dass der meist gesuchte NS-Verbrecher bereits seit sechs Jahren tot war, ertrunken vor der Küste Brasiliens. Seine Verbrechen blieben ungesühnt. Doch die Faszination des Bösen lebt bis heute fort. Im vergangenen Jahr veröffentlichte der französische Autor und Journalist Olivier Guez seinen reportageartigen Roman über das Leben Mengeles nach Auschwitz, der sofort zum Bestseller wurde und im Herbst 2017 mit dem renommierten Prix Renaudot ausgezeichnet wurde. Jetzt ist das Buch unter dem Titel „Das Verschwinden des Josef Mengele” auf Deutsch erschienen.
Um es gleich vorneweg zu sagen: Guez ist der größten Versuchung, nämlich der Dämonisierung Mengeles, nicht erlegen. Es ist eben nicht das „Porträt einer fanatischen Bestie” geworden, wie es ziemlich reißerisch im Klappentext heißt. Vielmehr beschreibt der Autor Mengeles Charakter ganz gut mit diesem Satz: „Von Karl senior hatte er die Hartnäckigkeit, die Arglist und den Ehrgeiz geerbt, von seiner Mutter Walburga die Kälte, das trockene verkümmerte Herz.”
Das „trockene, verkümmerte” Herz war Mengele ein guter Begleiter durch die Nachkriegszeit. Ohne Skrupel lebt der aalglatte Massenmörder unter seinem echten Namen zunächst in Buenos Aires auf großen Fuß im Kreise Gleichgesinnter, die er jedoch als „Salon-Nazis” verachtet: „Er hingegen weiß Bescheid, er hat gesehen und verbrochen, ohne Reue oder Gewissensbisse.” Seinen Erfolg als Geschäftsmann in Argentinien verdankt Mengele der üppigen Unterstützung seiner bayerischen Familie, die zeitlebens Kontakt mit ihm hält.
Als seine Frau in Deutschland die Scheidung will, bietet Vater Karl ihm die Witwe des verstorbenen Bruders als Ersatz an und Josef Mengele greift beherzt zu. Ein gutes Geschäft! Als 1959 endlich, endlich Haftbefehl gegen den Kriegsverbrecher erlassen wird, flüchtet Mengele in Panik weiter nach Paraguay und dann einige Jahre später, als der Boden ihm auch dort zu heiß wird, nach Brasilien. Mit jedem Ortwechsel geht es nun allerdings steiler bergab für ihn. Denn der Flüchtling wird abhängig von der Gnade und Verschwiegenheit anderer Menschen, die ihn verstecken.
Guez zeigt uns Mengele als zunehmend gehetztes panisches Tier, das in der Falle sitzt. Er, der frühere Halbgott über Leben und Tod, der Liebhaber klassischer Musik, der Akademiker mit den polierten Fingernägeln, lebt nun in primitivsten bäuerlichen Verhältnissen mit windigen Existenzen am Rande der zivilisierten Welt. Von seinem Wachtturm aus beobachtet er, ob sich ein Häscher seinem Versteck nähert. Angst wird zu seinem täglichen Begleiter. Und doch bleibt er auch als kranker alter Mann ein fanatischer Nazi, der niemals bereut.
Die Grenzen zwischen Roman und Sachbuch verschwimmen bei Guez stark. Die fiktionalen Elemente sind schwer auszumachen, denn er hält sich sehr eng an die Fakten. Wie Mengele in Südamerika lebte, dachte und urteilte ist ja aus seinen Tagebüchern bekannt, die nach seinem Tod zum Teil zugänglich wurden. Besonders für deutsche Leser ist das Verschwinden von Josef Mengele aber auch ein beschämendes Stück Zeitgeschichte. Durch fahrlässige Untätigkeit, Schlamperei und Kumpanei mit Alt-Nazis - etwa in den deutschen Botschaften in Argentinien und Paraguay - ließ die Bundesrepublik Deutschland einen der schlimmsten Kriegsverbrecher aller Zeiten entwischen. Diese Schuld ist nicht mehr zu sühnen.
Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele, Aufbau Verlag, Berlin, 224 Seiten, 20,00 Eurom, ISBN 978-3-351-03728-4 (dpa)