Post und Poesie Post und Poesie: Reiner Kunze ist ein Virtuose der handschriftlichen Nachricht

Halle (Saale) - Im Dezember 2017 veröffentlichte die Literaturzeitschrift „Neue Rundschau“ die bislang unbekannten Briefe des Schriftstellers Reiner Kunze an die Kollegin Brigitte Reimann. Die Korrespondenz aus den Jahren von 1952 bis 1972 war eine Überraschung, ans Licht gehoben von der Autorin Kristina Stella.
Weil der Dichter „aus Überlebensgründen“ über keine E-Mail-Anschrift verfügt, war die Bibliothekarin auf den Postweg angewiesen, um Briefkopien zu erhalten. Im Fall von Reiner Kunze bedeutet das kaum einen Zeitverlust. Der Autor, der nach dem politischen Skandal um sein Buch „Die wunderbaren Jahre“ 1977 aus der DDR nach Ostbayern übersiedelt war, muss die Konkurrenz der digitalen Medien nicht scheuen. Kunze antwortet stets postwendend. Und mit Vergnügen am Briefverkehr. Seine Mitteilungen, fiel der Reimann-Rechercheurin auf, sind voll von spielerischen Post-Metaphern.
So entschuldigte sich Kunze dafür, den Vornamen der Autorin falsch geschrieben zu haben: „Und Sie sind so nobel, nicht einmal mit der Briefwimper zu zucken.“ An anderer Stelle staunte er über Stellas Entschlossenheit: „Wenn Sie mit den Briefwechseln so weitermachen, wird Ihnen die Deutsche Post das goldene Posthorn verehren! (Von mir bekommen Sie die Kordel, damit Sie es sich umhängen können.)“
Reiner Kunze, der mit Brigitte Reimann das Geburtsjahr 1933 teilt, erklärte die spärliche Dokumentenlage: „Ich bedaure sehr, daß Brigittes Briefe an mich (uns) nicht mehr existieren. Wahrscheinlich habe ich sie, sobald sie beantwortet waren, zerrissen, damit sie bei einer Hausdurchsuchung nicht gefunden werden und Brigitte belasten konnten. Das war zu bestimmten Zeiten Postalltag.“
Brief mit blauem Siegel
Ein Stichwort, das bei Kristina Stella verfing. Wie sah der „Postalltag“ des Büchnerpreisträgers aus, der bis heute zu den auflagenstärksten deutschsprachigen Dichtern gehört? Wie wirken hier Post und Poesie zusammen? Was in der DDR hieß: Kontrolle - und die Herausforderung, diese zu umgehen. Das ist kein beiläufiges Thema. Tatsächlich ließe sich Reiner Kunze als der Postmeister der deutschen Gegenwartslyrik bezeichnen. Seine 1973 bei Reclam in Leipzig in zwei Auflagen von jeweils 15 000 Exemplaren verbreitete Gedichtsammlung trug den Titel „Brief mit blauem Siegel“. Die bot auch eine Auswahl aus dem legendären Zyklus „variationen über das thema ,die post’“. Das erste Gedicht lautet: „Wenn die post / hinters fenster fährt blühn / die eisblumen gelb“.
Unter dem Kunze-Zitat „Der Brief als solcher würde sich geehrt fühlen“ hat Kristina Stella die Ergebnisse ihres Sammelns und Nachdenkens zusammengetragen. Ein schlanker, bibliophil gebundener Essay liegt vor, veröffentlicht in einer Auflage von 500 postgelben Exemplaren in der Edition Toni Pongratz.
Die Post- führt auf die Lebensspur des aus dem Erzgebirge stammenden Dichters, mitten hinein in einen Überwachungs-Alltag, in dem Röntgentechnik, Brieföffnungsautomaten und Briefschließmaschinen zum Einsatz kamen, in dem verdächtige Sendungen geöffnet, kopiert, wieder verschlossen, weiterbefördert oder einbehalten wurden. „Briefe ihr / weißen läuse / im pelz des vaterlands, wartet, / die post ist / ein kamm!“, schrieb Reiner Kunze, der sich aber von diesem Werkzeug nicht frisieren ließ.
Heiratsantrag am Telefon
Kristina Stella zeigt, dass die Postspur des Dichters die einzige durchweg positiv besetzte Spur in dessen Leben ist. Für Kunze war die Post ein Türöffner, ein Lebensermöglicher, „der Postweg in den Westen eine Art zweiter Luftröhre, über die man notatmete“.
Auch in Richtung Osten. Seine in der Tschechoslowakei lebende Frau Elisabeth lernte Reiner Kunze 1959 auf dem Postweg kennen - über die damals geschlossene Grenze hinweg; die Deutschböhmin hatte einen Gedichtvortrag Kunzes im DDR-Rundfunk gehört und bei dem Sender nach einem Gedicht angefragt. Es entspann sich ein Briefwechsel mit dem Dichter, der schließlich telefonisch einen Heiratsantrag stellte. Immer nutzte Kunze die Post als ein Medium der Freiheit. Der Einfall für seinen berühmten Post-„Variationen“ kam 1969, als er mit einem abgelehnten Auslandsreisevisum im Zug von Berlin nach Greiz saß.
Sprechen und Schweigen, für beides ist der Brief ein Behältnis. Noch in Kunzes jüngstem Gedichtband „die stunde mit dir selbst“ gerät die Post in den Blick „Das vorratsfach für schwarzumrandete kuverts / ist leer // Die zunge wird vom schweigen schwer“, endet das Gedicht „Verstummen“. Von letzterem ist der Dichter, der heute seinen 86. Geburtstag feiert, weit entfernt.
Seit 2006 betreibt der Autor gemeinsam mit seiner Frau die Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung, die nach dem Tod des Paares dessen Wohnhaus bei Passau in eine „Stätte der Zeitzeugenschaft“ umgestalten soll. Die phantasievoll frankierten und gestalteten DDR-Briefumschläge, die Stella zeigt, gehören zum Haus-Archiv. Leuchtspuren eines Alltags, in dem der Briefträger nicht immer der Briefträger war. (mz)
Kristina Stella: Der Brief als solcher würde sich geehrt fühlen, Edition Toni Pongratz, 29 Seiten, mit Abb., 12 Euro