Porträt Porträt: Leben ohne Spiegelbild
Halle/MZ. - Dazu auffälliger Schmuck. Jedes Detail stimmt. Ein Outfit, das seine Wirkung nicht verfehlt. Die 30-Jährige weiß, wie es ist, alle Blicke auf sich zu ziehen - auch, wenn sie diese nicht wahrnehmen kann. Sie kennt ihr Spiegelbild - doch in ihrer Erinnerung wird es immer undeutlicher. Mehr als zwanzig Jahre lang lebte die groß gewachsene, schlanke Frau als Sehende. Während ihrer Studienzeit erblindete sie. Und so schwingt Melancholie mit, wenn sie diesen Satz sagt: "Ich habe einen unheimlich sehenden Anspruch an mein Leben."
Sie sei ein Ästhet, sagt sie, "dummerweise erst heute". Früher, als sie in Teenagertagen als Punkerin vor allem provozieren wollte, gehörten Flecke und Risse in der Kleidung wie die bunten Haare zu ihrer alltäglichen jugendlichen Rebellion. "Heute wäre ein Fleck auf der Bluse fast schon tragisch", sagt sie. Solch eine Kleinigkeit könnte sie bloßstellen - genauso wie ein schief gezogener Lidstrich oder eine Laufmasche in der Strumpfhose. Dann würde sie von anderen womöglich nur als die bemitleidenswerte Blinde angesehen werden - wie es immer wieder vorkommt. Doch ihr ist es sehr wichtig, eben dieses Klischee nicht zu bedienen.
"Als blinde Frau wird man häufig als Neutrum wahrgenommen", sagt die Hallenserin. Auf die Blindheit reduziert. Dabei hat sie mit dem Augenlicht doch nicht ihre Lust am Frausein verloren - auch, wenn es sich ohne Rückmeldung vom Spiegel und von anderen manchmal so anfühle, als schwebe man durch eine eigene Welt. Gerade arbeitet sie an einem Buch über das Schönheitsempfinden blinder Frauen. "Hinter Aphrodites Augen" soll es heißen und im Spätherbst erscheinen. Mehr als zwanzig blinde Frauen erzählen darin, wie sie Schönheit bei sich und bei anderen erleben und ihre weibliche Identität definieren. Neben Späterblindeten schreiben dort auch von Geburt an Blinde. "Düfte spielen für die meisten eine große Rolle", erzählt die Autorin. "Aber an Schminke trauen sich viele nicht ran." Und richtig mutig in Sachen Styling seien nur ganz wenige, bedauert sie. Daneben sollen in dem Buch Menschen zu Wort kommen, die sich beruflich mit dem Thema beschäftigen. Zum Beispiel eine Image-Beraterin für blinde Frauen. Oder eine Schmuckdesignerin, die für Blinde entwirft, indem sie besonderen Wert darauf legt, dass sich die Schmuckstücke gut anfühlen oder sogar klingen.
Jennifer Sonntag musste bereits als Jugendliche mit der Gewissheit leben, dass sie ihre Sehfähigkeit bald verlieren würde. Sie leidet an einer Netzhautdegeneration, die schrittweise zu Nachtblindheit, einer Einengung des Gesichtsfeldes, dem Verlust des Kontrast- und Farbsehens und letztlich zur Blindheit führt. Während ihres Sozialpädagogik-Studiums in Merseburg verschlimmerten sich die Symptome. Anfangs verdrängte sie das: Ihren Traum, einmal als Streetworkerin zu arbeiten, wollte sie nicht aufgeben. "Ich habe versucht, so weiter zu leben wie zuvor", sagt sie. Das wurde immer schwerer. Irgendwann konnte sie Bücher und Aufzeichnungen nicht mehr lesen, musste sich den Lernstoff mit dem einprägen, was sie in den Vorlesungen gehört hatte. Ihr Spiegelbild zu verlieren, habe dabei zu den schmerzlichsten Erfahrungen gehört, erinnert sie sich: "Ich suchte mich und fand mich nicht mehr. Ich spiegelte mich nicht mehr im Vorübergehen in den Schaufenstern, nicht mehr in den Pfützen und auch nicht im Suppenlöffel."
Trotz der Verzweiflung, die sie immer wieder überkam, konzentrierte sie sich nun darauf, ihre Zukunft neu zu planen. Sie nahm Abschied von ihrem Traumberuf und wählte die Reha-Pädagogik als Studienschwerpunkt aus. In ihrem Praxissemester arbeitete sie im halleschen Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte (siehe "Hilfe bei Neueinstieg"). Allmählich begann die junge Frau, sich selbst wiederzufinden. "Ich lernte, mit den Fingerspitzen, mit den Ohren, mit der Nase, mit dem Mund und mit der Intuition zu sehen", sagt sie. Der Ausdruckstanz half ihr, sich und ihren Körper wahrzunehmen. In dieser Zeit habe sie auch ein ganz anderes Bewusstsein für ihre Stimme, Ausstrahlung und Persönlichkeit entwickelt. "Mein neuer Spiegel war tiefgründiger, ehrlicher und lebendiger als es die reflektierende Glasscheibe in meinem Badezimmer je sein konnte."
Und sie entdeckte, dass es ihr immer noch Spaß machte, sich in Schale zu werfen. Sie schuf ein eigenes System, mit dem Verwechslungen ausgeschlossen sind: Die Kleidungs- und Schmuckstücke bekommen einen festen Platz zugewiesen, Kosmetikartikel werden in Körben geordnet. Strumpfhosen mit Laufmasche kriegen einen Knoten. Mit bunten Edelsteinen trainiert sie das Farbgedächtnis: Beim Ertasten ihrer Formen kommen die Erinnerungen an deren Farben hoch. Im Ernstfall vertraut sie auf den Rat von Freunden.
Im Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte ist Jennifer Sonntag heute als Sozialpädagogin tätig: In dem Projekt "Sensorische Welt" können Sehende nachempfinden, wie es ist, im Dunkeln zu leben. Das können sie im Übrigen auch in ihrem Buch "Verführung zu einem Blind Date", das im vorigen Jahr veröffentlicht wurde. Darin beschreibt sie das Blindsein vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte. Die dazugehörige Dunkellesung im Neuen Theater in Halle wurde zum Publikumserfolg. Bald soll es sie wieder geben.
Daneben interviewt die energiegeladene Frau, die sich für Esoterik, Musik und Fotokunst interessiert, im Fernsehen Prominente. Für die monatliche MDR-Sendung "Selbstbestimmt", in der es um das Leben mit Behinderung geht, plauderte sie beispielsweise schon mit Alice Schwarzer, Reinhold Messner und Reiner Calmund. Besonders aufgeregt war sie aber bei dem Gespräch mit Ex-Handballer Stefan Kretzschmar. "Da mussten bei mir zum ersten Mal die Hände abgepudert werden", lacht sie. Dabei hat sie bei den Interviews kaum Zeit für Nervosität: "Ich bin dann immer extrem konzentriert." Denn als Späterblindete sei sie kein sehr schneller Punktschriftleser - deshalb muss sie sich alle ihre Fragen genau merken. Zudem ist es für sie natürlich schwierig, die Kamera zu fixieren. Am eindrücklichsten sei das Gespräch mit Alice Schwarzer gewesen: "Sie ist ja unheimlich kommunikativ." Die Feministin hatte sie sogar ihr Gesicht und ihre Haare erfühlen lassen.
Bei allem, was sie tut, sieht sich Jennifer Sonntag als Botschafterin zwischen blinden und sehenden Menschen. Schließlich versteht sie beide Seiten - als "Zwischenweltlerin", wie sie sich nennt: Sie sei "eine Erblindete, die nicht mehr sehen kann und eine Sehende, die noch nicht blind sein kann". Diesen vermeintlichen Widerspruch weiß sie zu nutzen - und räumt mit Vorurteilen auf, auf die sie immer wieder stößt. Etliche Menschen bemerkten etwa gar nicht, dass blinde Frauen meist sehr selbständig und zudem berufstätig sind: "Viele denken, mein Freund ist so etwas wie mein Zivildienstleistender, der mich umsorgt, füttert und schminkt." Dabei führe sie eine ganz normale Partnerschaft - mit einer Ausnahme: "Ich bedaure sehr, dass ich die verliebten Blicke nicht wahrnehmen kann, die er mir entgegen bringt", sagt sie.
Die Sendung "Selbstbestimmt" läuft am Samstag, 11.05 Uhr, im MDR (Wiederholung am Montag, 9.20 Uhr). Jennifer Sonntag befragt die Schauspielerin Katy Karrenbauer.