Politische Lektüre Politische Lektüre: Rückkehr ins Land des Vaters
Halle/MZ. - Das Andenken des Links-Intellektuellen, der von 1928 an zu den besten Redakteuren des legendären liberalen "Berliner Tageblatts" gehörte, ist in der DDR vorsätzlich ausgelöscht und - wo dieses nicht restlos gelingen wollte - verfälscht worden.
Bis heute halten sich jene Gerüchte, die behaupten, dass Herrnstadt 1953 im Auftrag des sowjetischen Geheimdienst-Chefs Berija gemeinsam mit dem Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, eine "parteifeindliche Fraktion" gebildet habe, um den Sturz Walter Ulbrichts zu betreiben. Eine, wie man aktenkundig weiß, haltlose Anklage, die Herrnstadt und Zaisser im Juli 1953 alle Ämter kostet. Ulbricht versteckte das eigene politische Versagen im Verlauf des 17. Juni 1953, indem er die innerparteilichen Reformer preisgab. Dass Herrnstadt im August 1953 als unterer Angestellter in das Staatsarchiv nach Merseburg abgeschoben wurde, ist heute nur noch unter Historikern abrufbar. Aber bereits nicht mehr, und kaum vor Ort, dass er von 1955 an in Halle lebte, wo er 1966 starb und beigesetzt ist. Insofern ist es auch ein zeitgeschichtliches Verdienst, dass Herrnstadts älteste Tochter, die in Berlin lebende Schriftstellerin Irina Liebmann ("Berliner Mietshaus", "Mitten im Krieg"), ihrem Vater ein Buch der Erinnerung gewidmet hat. "Wäre es schön? Es wäre schön!" lautet dessen Titel, der einen 1951 verfassten Leitartikel von Rudolf Herrnstadt zitiert.
Erst 60 Jahre alt habe sie werden müssen, um dieses Buch schreiben zu können, notiert die 1943 in Moskau geborene Autorin. Nie wollte sie "die Tochter eines berühmten Mannes sein, nur das nicht!" Aber immer sei der Vater gegenwärtig gewesen: "dieser Mann, den eine Zeit lang alle gekannt hatten und über den sie nichts wussten oder zu wenig, der aber Beunruhigung hinterlassen hatte, eine Spur in der Luft, die nur langsam verebbte. Aber tat sie das überhaupt?" Liebmann, die keine Parteigängerin ihres Vaters ist, setzt sich diesem Luftzug aus, sie zieht ihn auf sich und verstärkt ihn, ohne sich von diesem überwältigen zu lassen.
Generation der Tat
Entstanden ist eine eindrucksvolle, auch anrührende, gleichermaßen von Fairness im Urteil wie von Genauigkeit in den historischen Details vorangetriebene biografische Recherche. Erzählt wird die Geschichte eines künstlerisch begabten Intellektuellen jener Generation der Tat, die um 1918 ihre Prägungen erhält, um sich entweder entschieden nach links oder nach rechts zu wenden.
Herrnstadt, 1903 in Gleiwitz als Sohn eines jüdischen Rechtsanwaltes geboren, schreitet scharf nach links aus, befeuert vom Arbeiterelend im oberschlesischen Industrierevier. Irina Liebmann zeigt die Clique, die sich um Herrnstadt in Gleiwitz findet. Mit dabei: Lothar Bolz, später DDR-Außenminister, und Gottfried Bermann, der spätere Verleger Bermann-Fischer. Jugend vor der Gewitterwand von Revolution und Bürgerkrieg. Verblüffend: Alle schreiben sie Gedichte! Herrnstadt, der mit Thomas Mann Briefe gewechselt haben soll, versucht "die neue, zeitgenössische Form des Dramas zu finden". Irina Liebmann kommentiert: "Rudolf Herrnstadt sieht die Welt dramatisch!"
Allein Rudolf Herrnstadt soll sein Drama in der Passionsgeschichte der deutschen Kommunisten finden. In dieser erlangt der abgebrochene Jura-Student und vielversprechende Hauptstadtjournalist, der den "Berliner Tageblatt"-Herausgeber Theodor Wolff mit einer komplett selbstgeschriebenen Zeitung überzeugt, nur mit Aufwand seinen ersten Auftritt. Anderthalb Jahre wirbt Herrnstadt um Aufnahme in die Partei, bis ihn 1931 der Nachrichtendienst der Roten Armee (GRU) entdeckt: Die Armee, nicht die Partei, hat Interesse an diesem jungen Intellektuellen. Herrnstadts Lebensgefährtin Ilse Stöbe, die Chefsekretärin Wolffs, wählt denselben Weg. Gemeinsam arbeiten sie in der von Herrnstadt geführten Spionagezelle. Vergeblich, denn alle Hinweise auf einen deutschen Angriff auf die Sowjetunion landen in Stalins Papierkorb.
Mit Ausbruch des Krieges flieht Herrnstadt, der von 1933 an nach außen hin als "Tageblatt"-Korrespondent in Warschau tätig war, nach Moskau. Ilse Stöbe wird 1942 in Plötzensee hingerichtet. Herrnstadt überlebt: Aber zu welchem Preis? Ab 1940 im Generalstab der Roten Armee beschäftigt, wird er 1942 in die KPD-Gruppe der Komintern abgeschoben. Sofort ist klar: Dieser bürgerlich geprägte Intellektuelle passt nicht in Ulbrichts Truppe der ängstlichen Taktiker und realitätsfernen Schwadroneure, die jedermann in Grund und Boden dozieren, weil ihnen im Exil die Auftritte vor Volksmassen fehlen. Herrnstadt wird Chefredakteur der Frontzeitung "Freies Deutschland" und Mitgründer des "Nationalkomitees Freies Deutschland" (NKFD). Die Gründungsurkunde nennt viele Namen, den Herrnstadts nicht. Irina Liebmann: "Sie haben dich angeschissen, Papa." Nicht zum letzten Mal.
Aus der "Gruppe Ulbricht", die 1945 als erste in Deutschland landen soll, wird Herrnstadt wieder aussortiert: Man wolle nicht mit einem Juden provozieren. Die Russen schicken ihn trotzdem hinterher, damit er die neue Presse aufbaut. Er gründet im Juni 1945 die "Berliner Zeitung" und übernimmt 1949 von Lex Ende das "Neue Deutschland". Herrnstadt, der nun selbst Politik macht, bringt Leben ins Parteiblatt: So ist er der eigentliche Erfinder des Aufbauprojektes Stalinallee. Aber er wird auch schuldig, indem er - nicht zuletzt im Blick auf den 17. Juni 1953 - mit agitatorischer Schärfe eine Welt dekretiert, die es gar nicht gibt.
Politik des Verrats
Was Herrnstadt besser weiß und tatsächlich wünscht, trägt er ins Politbüro, wo er 1953 jene Zukunftspapiere zu verfassen hat, die später gegen ihren Verfasser verwendet werden. Herrnstadt überlebt seinen Sturz: In der Merseburger und Hallenser Abgeschiedenheit sucht er seinen Fall zu reflektieren, immer klarsichtiger. Bis auf den NKFD-Kameraden Max Emendörfer meldet sich niemand mehr bei dem einst mächtigsten Pressemann der DDR und dessen Ehefrau, der russischen Germanistin Valentina. Nicht ein einziges Mal, schreibt Irina Liebmann, habe sie im Zuge ihrer Recherchen von Solidarität der Genossen untereinander gelesen: "Fällt das Wort ,Feind, hebt hier jeder die Hand". Wohl nicht allein aus Feigheit oder kommunistischer Religiosität, sondern aus dem Wissen, eine einmal getroffene Lebensentscheidung nicht mehr korrigieren zu können.
Rudolf Herrnstadt aber ist dazu gezwungen. Fortan muss er seine politische Leidenschaft gegen das Leiden in der Loyalitätsfalle zur SED behaupten. Zum Ende hin bietet das Buch, das an die Tabus der kommunistischen Selbsterzählung rührt, ein eindrückliches Bild: der ehemalige Politbüro-Mann als einfacher Herr mit Hut und Aktentasche in der Straßenbahn, die werktags zwischen Halle und Merseburg pendelt. Unter all den Mitfahrern nicht unglücklich, wie er sagt.