Philosophie Philosophie: Leben im Widerspruch gegen das fest gefügte Lehrgebäude
Halle/MZ. - Als utopische Zuflucht und letzte Herausforderung hatte er ihn immer wieder wortreich beschworen, am 11. November 1855 aber begegnete Sören Kierkegaard stumm seinem Tod. Wenige Wochen zuvor war der erst 42-Jährige auf offener Straße von einem Schlaganfall getroffen und in das Kopenhagener Frederiks-Hospital gebracht worden, seither hatte sich sein Zustand rapide verschlechtert. Als finalen Akt des Widerstands hatte er das Abendmahl abgelehnt, seine letzte Notiz im Tagebuch endete mit den Worten: "Die Strafe entspricht der Schuld: aller Lust zum Leben beraubt zu werden, zum höchsten Grad von Lebensüberdruß gebracht zu werden."
Wer war dieser Mann, der seine kleine Heimat Dänemark auch am 150. Todestag weit über die akademischen Kreise hinaus erregt? Am 5. Mai 1813 in einen pietistischen Kaufmanns-Haushalt hineingeboren, schien Sören Kierkegaard früh für eine theologische Laufbahn prädestiniert - und wurde nicht zuletzt durch den frühen Tod mehrerer Geschwister mit den Tröstungen des christlichen Glaubens vertraut.
Dass er gegen solche Fremdbestimmung rebellierte und - kurz vor dem 30. Geburtstag - mit Veröffentlichung seines genialischen Erstlingswerks ein alternatives Dasein erfand, gilt als Glücksfall der Philosophie: "Mit Kierkegaard setzt das Denken der radikalen, in Experimenten schwebenden Modernität ein. Er betrat als erster das Zeitalter des Zweifels, des Verdachts und der schöpferischen Entscheidung", schreibt Peter Sloterdijk.
Schon der Titel dieses Buches, das zugleich den frühen Höhepunkt seines Ruhms markierte, zeugt von Kierkegaards Radikalität. "Entweder - Oder" referiert die Lebensentwürfe des Ästheten A. und des Ethikers B. - und ist in seiner flirrenden Mischung aus Aphorismus und Erzählung, Lustspiel und Essay alles andere als ein eindeutiges Manifest. Tatsächlich schreibt bei Kierkegaard immer die Skepsis mit, ist der erschütternde Widerspruch spannender als das fest gefügte Lehrgebäude. So bleibt der Denker, der zur Suche nach dem "wahren Selbst"ermuntert, seinen Mitmenschen selbst ein Rätsel. Bis in die erotische Entsagung steigert er seine Autonomie, während er sich durch aufwändigen Lebenswandel in tiefste Abhängigkeit verstrickt. Bis zur Verletzung treibt er Spott, aber leidet jahrelang unter einer Karikatur der eigenen Person.
Und er predigt im Glauben gegen die Kirche: "Die Bibel ist nicht dazu da, dass wir sie kritisieren, sondern dass sie uns kritisiert". Ein Mensch im Widerspruch, von dessen Irrtümern man lernen kann - auch 150 Jahre nach seinem Tod.