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Oxford schaut auf Wittenberg Oxford schaut auf Wittenberg: Eine etwas andere Biografie über Luther

Von Günter Kowa 01.08.2016, 18:36
Der Anti-Asket Luther im Kreis seiner Familie, kolorierte Radierung von 1825
Der Anti-Asket Luther im Kreis seiner Familie, kolorierte Radierung von 1825 Stiftung Luthergedenkstätten

Halle (Saale) - Mit dem kommenden Jubeljahr der Reformation schlägt auch wieder die Stunde der Luther-Biografen. Sie alle werden ihrem Helden etwas Neues abgewinnen wollen.

Dass das durchaus möglich ist, kann man von dem Werk sagen, das die in Oxford lehrende Historikerin Lyndal Roper vorgelegt hat. Sie ist die 1956 geborene Tochter eines australischen Presbyterianer-Pfarrers und Schülerin von Heiko A. Oberman in Tübingen, ihr in England jüngst erschienenes Buch trägt den Titel „Martin Luther - Renegade and Prophet“. Als „Luther, der Mensch“ soll es im September auf Deutsch erscheinen.

Wer 578 Seiten englischsprachige Geschichtsschreibung auf Oxford-Niveau nicht scheut, der hat den Gewinn dieser Lektüre schon jetzt und im Original.

Sie lohnt sich erst recht, wenn man im Kernland der Reformation lebt. Das Buch ist nicht zuletzt die Frucht intensiver Recherche in den Archiven der Region. Anders als viele ihrer Kollegen macht Roper den Versuch, Luther noch einmal ausgehend von seiner Beziehung zum Vater und zur Mutter zu verstehen, wie vor Jahrzehnten zuletzt Erik Erikson in „Young Man Luther“.

Historiker haben das 1958 erschienene Buch des amerikanischen Psychoanalytikers meist nicht für voll genommen. Davon hat sich Roper nicht beeindrucken lassen. Dass von ihr Eigenwilliges zu erwarten ist, zeigen ihre Publikationen mit Titeln wie „Körper und Psyche in der frühen Neuzeit“ oder „Frauen und Moral in der Reformation“. Zum Feminismus bekennt sie sich außerdem.

Auf den Leib gerückt

Wer jetzt Gender-Prosa befürchtet, kann vollauf beruhigt sein. Nichts davon in dem Buch, das Luther wie kaum ein anderes auf den Leib rückt. Roper, die in einem Exkurs über den „Feisten Doktor“ Luther mit seiner „Körperlichkeit“ und „physischen Existenz“ erklärt hat, beschreibt seinen Wandel vom ausgezehrten Mönch zum fleischigen Ehemann und Reformator lebensnah wie Cranach in seinen Porträts.

Aus Luthers Selbstäußerungen über seinen Körper erhellt Roper auch seine Theologie, deren innersten Kern sie nicht in der (wiewohl wichtigen) Rechtfertigungslehre, sondern in seinem Abendmahlsverständnis ausmacht: In seinem unnachgiebig verteidigten Dogma von der wundersam „realen Präsenz Christi“ im Sakrament von Brot und Wein.

Warum es auch um das Verwürfnis zu Müntzer und Karlstadt geht.

Luthers Theologie ist „anti-asketisch“ und verwischt die Unterscheidung von Körper und Geist. Das macht ihn offen für den Ruf nach der Priesterehe und für ein in seiner Zeit erstaunlich freies Verhältnis zur Sexualität. Der Mensch ist Sünder und bleibt es, und die Lust ist nur eine Sünde unter anderen, auch vor Gott und seiner Gnade. Das ist in Ropers Darstellung auch der tiefere Grund für sein Zerwürfnis mit Thomas Müntzer und Andreas Karlstadt.

Beide sollten theologisch einen völlig anderen Weg gehen als Luther, nämlich zu einer spirituellen Erfahrung Gottes und der Verdammnis aller körperlichen Begierden. Das wird in dem Moment für Luther lebensentscheidend, als er während seiner Abwesenheit auf der Wartburg seine Deutungshoheit über die Reformation gefährdet sieht.

Zu Müntzer sagt Roper wenig Neues, dagegen aber macht sie wie kein anderer Biograf den Bruch Luthers mit Karlstadt zu einem zentralen Szenario ihres Buches. Luther hat Karlstadt, den einstigen Freund, Kollegen und Weggefährten aus den ersten Stunden an der Wittenberger Universität, nach seiner Rückkehr von der Wartburg kalt entschlossen aus Wittenberg hinausgeekelt, um dort zur unangefochtenen Leitfigur aufzurücken.

Dabei habe er eine „Stadtreformation“ im Keim erstickt, der Karlstadt mit seiner revolutionären Weihnachtsmesse enorm Auftrieb gegeben hatte, die aber die Macht des Kurfürsten bedrohte. Bedenkenswert ist auch Ropers Ansicht, Luther habe sich von da an auf sein kleines Reich in Wittenberg konzentriert und seinen Einfluss auf andere Reformatoren allmählich eingebüßt.

"Vatermord" und "Bruch mit der Männlichkeit"

Roper folgt Erikson, wenn sie Luthers Kampf mit den altkirchlichen Autoritäten auf den „Vatermord“ zurückführt, der mit dem Eintritt ins Erfurter Kloster begann, entgegen den väterlichen Erwartungen eines Jurastudiums.

Aber sie beschreibt es auch als einen Bruch mit der „männlichen“ Welt seiner Kindheit im Milieu der Mansfelder Bergleute und sieht im Gegensatz dazu eine „weibliche“ Welt, die ihn in Eisenach bei den mütterlichen Verwandten prägte. Eriksons psychoanalytische Deutung geht ihr nicht weit genug: Bedrohlicher als der leibliche Vater war Luther der unnahbare, unendlich weit entfernte Gott-Vater.

So werden bei Roper der Kampf gegen den Papst und die Begegnungen Luthers mit seinen Widersachern aus der Frühzeit der Reformation zum Aufbegehren gegen patriarchalische Autoritäten. Meisterlich hantiert sie mit ihren Quellen und bringt sie in packenden Erzählungen zum Leben. Selbst so bekannte Episoden wie Luthers Zusammenprall mit Cajetan in Augsburg oder Eck in Leipzig, erst recht sein Auftritt in Worms, reißen zu atemloser Lektüre hin. Ropers Luther ist alles andere als blutleer.

Das Buch zum Jubiläum

Gelegentlich scheint auch die Pastorentochter durch, wenn sie Luthers Wormser Begriff vom „Gewissen“ einerseits in seiner zeitgebundenen Bedeutung erklärt, andererseits ins Moralisch-Grundsätzliche ausführt. Und wenn sie am Ende ihr Urteil zu Luther abwägt, legt sie Volksnähe, Leutseligkeit, Freundschaften, Familiensinn, natürlich auch Sprachgenie und Überzeugungskraft in die Schale, aber ihre Sympathie wird doch spürbar von den Schattenseiten getrübt, von seiner blindwütigen Energie in persönlichen Ambitionen, rhetorischer Vernichtung von Gegnern und dem Hass auf die Juden. Das Jubiläum hat sein Luther-Buch, das zwar nicht wirklich einen „Propheten“, aber doch einen „schwierigen Helden“ neu zur Diskussion stellt.

Lyndal Roper: „Martin Luther - Renegade and Prophet“, Verlag The Bodley Head, 577 Seiten, 26,95 Euro. Die deutsche Ausgabe erscheint am 22. September bei S. Fischer, 864 Seiten, 24,99 Euro.

(mz)

Lyndal Roper, geboren 1956, ist Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Oxford, England.
Lyndal Roper, geboren 1956, ist Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Oxford, England.
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