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Orman Pamuk Orman Pamuk: Friedenspreisträger gewährt Einblicke in türkisches Leben

Von Ingo Bierschwale 06.03.2006, 13:11

Istanbul/dpa. - In Hollywood-Filmen wie «Cleopatra», «die immer miteinigen Jahren Verspätung nach Istanbul kamen», verfolgt der kleineJunge aufmerksam, «wie das Einstecktuch zusammengefaltet, eineWhiskey-Flasche geöffnet, einer Dame Feuer gereicht (...) wurde.» Voneiner ganz anderen, sehr persönlichen Seite zeigt sich der mit demFriedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete türkischeSchriftsteller Orhan Pamuk (53) in «Der Blick aus meinem Fenster»,einem Sammelband von Essays und Betrachtungen.

In dieser bürgerlichen Welt im Istanbul der 60er Jahre, die «sichverwestlichen, sich europäisieren» will, spielen Bücher und Literaturfür den heranwachsenden Pamuk eine besondere Rolle. DasUnterschriftenblatt, das den Schuljungen vor der Impfung bewahrensoll, legt der Vater «auf den Kierkegaard, den er immer las, ohne jefertig zu werden». Es beeindruckt ihn, «wie er (der Vater) von Sartreoder Camus, die er in Paris getroffen hatte, so berichtete wie dieVäter von anderen von religiösen Führern oder Generälen».

Doch das Vordringen in die europäische Geisteswelt verläuft nichtohne Irritationen. Wie ist es möglich, dass eine ganze Generationtürkischer Schriftsteller den Nobelpreisträger André Gide bewundert,fragt sich Pamuk, obwohl dieser in seinen Tagebuchaufzeichnungenbezüglich der Türkei «in erschreckender Aufrichtigkeit» einen«Rassismus» an den Tag legt, «dem jedes Feingefühl abgeht». Denscheinbaren Widerspruch löst er für sich dahin auf, dass «zwischenVerachtung und Bewunderung eine starke wechselseitige Beziehungbesteht». Auch seine Vorstellung von Europa sei «keine strahlende,klare, grandiose, hehre Idee», sondern «ein Spannungsbogen ausAbscheu und Zuneigung, Sehnsucht und Verachtung».

Größte Bewunderung hegt Pamuk daher nicht von ungefähr für denRussen Fjodor Dostojewski, «der wie ich am Rande Europas in ständigemRingen mit europäischem Gedankengut lebt». Eigentliches Thema vonDostojewskis «Aufzeichnungen aus einem Kellerloch» sind für Pamuk«der Neid, die Wut und der Stolz, kein Europäer zu sein.» Ihnbefriedige, «dass weite Teile der modernen Literatur gerade ausdieser quälenden Spannung erwachsen sind: ein Europäer zu sein undgleichzeitig einen großen Abscheu davor zu empfinden».

Pamuks Essays seien eine Ergänzung zu seinen Romanen, heißt es imKlappentext des Buches. «Sie zeichnen seinen zunächst gar nichtgradlinigen Werdegang als Schriftsteller nach und zeigen, warum erprädestiniert ist für die Rolle des Vermittlers zwischen denKulturen.»

Hochaktuell vor dem Hintergrund der Kluft, die die Mohammed-Karikaturen zwischen dem Westen und der islamischen Welt aufgerissenhaben, klingen Betrachtungen, die Pamuk nach dem Terroranschlag vom11. September 2001 in den USA angestellt hat: «Der Westen hat leiderkaum eine Vorstellung von diesem Gefühl der Erniedrigung, das einegroße Mehrheit der Weltbevölkerung erlebt und überwinden muss, ohneden Verstand zu verlieren oder sich auf Terroristen, radikaleNationalisten oder religiöse Fundamentalisten einzulassen.»

Orhan Pamuk: Der Blick aus meinem Fenster; Hanser Verlag, München; 264 S., Euro 21,50; ISBN 3-446-20739-2