Orhan Pamuk Orhan Pamuk: Fesselnde Erinnerungsarbeit über Istanbul

München/dpa. - Der 54-Jährige hathier über 400 Seiten originell, intelligent, warmherzig und auchraffiniert Betrachtungen über seine Heimatstadt mit Erinnerungen andie eigene Kindheit und Jugend in der 14-Millionen-Einwohner-Stadtzusammengeflochten.
Als «Stadtschilderung» haben die Nobeljuroren von der SchwedischenAkademie das nicht leicht zu fassende Genre des Buches etwasfantasie- und lieblos eingestuft, dem Autor aber dann denberühmtesten Preis der Welt mit einer etwas anspruchsvollerklingenden Begründung zuerteilt: «Pamuk hat auf der Suche nach dermelancholischen Seele seiner Heimatstadt neue Sinnbilder für Streitund Verflechtung der Kulturen gefunden.» Gut, dass der Geehrte viellocker und leserfreundlicher formulieren kann.
Nach der Lektüre des Buches ist man sich auch nicht ganz sicher,wie genau die schwedischen Juroren neben den bisher fünf Romanen desvor allem im Westen erfolgreichen Pamuk auch die zuletzt erschienene«Stadtschilderung» ihres Preisträgers genau gelesen haben. DennIstanbul wird von Pamuk nicht gerade eine im Kern immer schon«melancholische Seele» bescheinigt, sondern die Entwicklung vonMelancholie als kollektiver Grundstimmung aus vielfältigenhistorischen Entwicklungen herausgearbeitet. Der Untergang desOsmanischen Reiches ist hier der Schlüssel zum Schlüsselbegriff«Hüzün», dem türkischen Wort für kollektive Melancholie.
Nicht nur melancholisch ist es im Elternhaus Pamuks daheimzugegangen, in Sichtweite des Bosporus. Die Schilderung der eigenenEntwicklung vom kleinen Jungen zum jungen Mann, der Schriftstellerwerden will, gehört zu den Glanzpunkten dieses Buches. Der bei derAbfassung 50 Jahre alte Autor hat vielleicht mehr noch als «diemelancholische Seele seiner Heimatstadt» den Schlüssel zu eigenenseelische Entwicklungen gesucht. Erinnerungsarbeit nennt man dasgerne, und die Suche nach der Stadtseele als Rahmen scheint ihmbestens zu Diensten gewesen zu sein.
Aus der Verknüpfung beider Elemente erwachsen eindrücklichePassagen, in denen Pamuk raffiniert seine Befunde zu Istanbul alsniedergehender, von Passivität befallener Metropole mit persönlichenEntwicklungsstadien als unsicher Suchender zusammenfügt. Das müsstejedem Leser, egal ob man aus einer Millionen-Stadt am Bosporus kommtoder aus einem kleinen Kaff in Ostwestfalen-Lippe, Lust auf eigeneErinnerungsarbeit vor Ort machen. Pamuk urteilt oft hart und mitunterseltsam pauschal über das, was er als Niedergang von Istanbulempfindet: «Das seit 150 Jahren auf der Stadt lastende Gefühl desfortwährenden Scheiterns manifestiert sich in zahllosenSchwarzweißperspektiven, und eben auch in der Kleidung.» Oder:«Istanbul verkam zu einem langsam vor sich hin altenden, verödenden,schwarz-weißen, monotonen und einsprachigen Ort.»
Und doch ist man sich am Ende völlig sicher, dass dieserbienenfleißige «Stadtschreiber» Istanbul viel mehr mag alsverabscheut. Schließlich wohnt er, bis auf drei Monate pro Jahr alsGastprofessor in den USA, nach wie vor hier. Und da ist ja auch dieVerknüpfung mit der Erforschung der eigenen Seele. «Der geneigteLeser» habe ja gemerkt, dass er sich bemühe «durch mich über Istanbulund durch Istanbul über mich zu berichten», heißt es im Buch.
Nobelpreiswürdig? Man würde gern die Meinung von klugen nicht-westlichen Lesern mit genauester Kenntnis Istanbuls und türkischerGeschichte einholen. Vor der Nobelpreisverleihung am 10. Dezember hatPamuk immer und immer wieder erklärt, er wolle sich dabei nur alsLiterat und nicht politisch äußern. Aber das Istanbul-Buch ist nichtzuletzt wegen der enormen Popularität des Autoren bei westlichenLesern auch durch und durch politisch.
Orhan Pamuk: Istanbul - Erinnerungen an eine Stadt; Hanser Verlag, München; 432 S., Euro 25,90; ISBN: 3-4476-20826-7