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"O Himmel strahlender Azur" "O Himmel strahlender Azur": Die Linke schenkt André Bücker eine Party

Von christian eger 09.06.2015, 17:52
Gregor Gysi (re) und André Bücker
Gregor Gysi (re) und André Bücker Katja Müller Lizenz

magdeburg - André Bücker weiß von nichts. Während der Intendant des Anhaltischen Theaters auf eine Stadtrundfahrt durch die Landeshauptstadt geschickt wird, füllt sich am Montagabend der Saal der „Grünen Zitadelle“, einer Kleinkunstbühne im Untergeschoss des Hundertwasserhauses. Hier soll sich ereignen, was vor Bücker geheim gehalten werden konnte: Die Linke-Fraktion des Landes lädt zu einem „Abend für André Bücker“, zu einer Gala im buchstäblichen Untergrund, um dem Dessauer Aktivisten des sachsen-anhaltischen Theaterkampfes zu danken, der sein Theater im Sommer 2013 mit Seilen gegen den angedrohten Spartenabbau „verankerte“ und dem wegen politischer Unbotmäßigkeit der Vertrag als Intendant nicht verlängert wurde.

Ist Gysi hier der Überraschungsgast?

Bis 19 Uhr füllt sich der Saal. Festlich eingedeckte runde Tische, hohe vierarmige Kerzenleuchter, die Stühle mit weißem Tuch überzogen, auf denen sich die mehr als 100 Gäste in Abendrobe niederlassen. Nicht nur die Getreuen der Linken, sondern auch Theatermenschen und Künstler aus Halle und Dessau, Eisleben und Magdeburg, zudem die Grünen-Landtagsfraktions-Chefin Claudia Dalbert, die Grünen-Vorsitzende Cornelia Lüddemann, die stellvertretende FDP-Landesvorsitzende Lydia Hüskens, der CDU-Staatssekretär im Wirtschaftsministerium Marco Tullner.

Kurzum, für Momente scheint ein politisches Sachsen-Anhalt auf, wie es auch sein könnte. Eines, in dem über Parteigrenzen hinweg ernst genommen wird, was ernst zu nehmen ist. In dem die Leistung eines Intendanten gewürdigt wird, die nicht erst 2009 in Dessau, sondern 2005 im Nordharzer Städtebundtheater begann, jener Bühne, die in die Schlagzeilen geriet, als im Juni 2007 rechtsextreme Schläger eine Gruppe von Schauspielern angriffen und verletzten. André Bücker reagierte damals mit der öffentlichen Aktion „Auf die Plätze! Die Stadt gehört den Demokraten“.

Doch statt Bücker trifft 20 Minuten nach sieben Gregor Gysi in der „Grünen Zitadelle“ ein. Wie bitte? Der Mann, der am Tag zuvor in Bielefeld seinen Abschied als Linke-Fraktions-Chef im Bundestag angekündigt hat, eilt die Stufen herunter, um erst einmal im Hintergrund zu verschwinden. Ist Gysi hier der Überraschungsgast? Soll er Bücker etwa das Parteibuch anbieten? In den vergangenen Wochen hatte der Intendant immer wieder erklärt, dass er sich auf neue Weise in Sachsen-Anhalt einbringen wolle. Das kann in Unruhe versetzen.

Da taucht André Bücker auf, gemeinsam mit seiner Frau bleibt er auf halber Treppe stehen. Das kann doch nicht wahr sein! Stühlerücken, Standing Ovations. Unter Beifall nimmt der Intendant, der noch zwei Wochen im Amt ist, am Tisch an der Bühne Platz, auf der der Kultursprecher der Linken, Stefan Gebhardt, mit roter Fliege auf weißem Hemd den Conferencier gibt. Man muss sagen: Er kann es.

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Was sich nun, über drei Stunden - und ohne größere Längen - auf der Bühne abspielt, ist eine Hochleistungs-Revue an künstlerischen und politischen Kurz-Darbietungen, die mit der Rasanz eines Hochgeschwindigkeitszuges durch die Köpfe und Herzen des Publikums rauscht. Ein Publikum, das eben kein Parteivolk ist, auch wenn SPD und CDU - nachvollziehbar - nicht eingeladen wurden. Und warum Gysi? Weil er in Halberstadt, nach dem Überfall der Rechten, der erste Politiker war, der ohne Presse und Tamtam ins Theater kam, um zuzuhören. Dafür dankt Bücker „von Herzen“. Das ist die Bindung zu Gregor Gysi - und nicht weniger.

Drei Stunden Programm. Drei Stunden Kunst, Appelle und Parolen. Götz von Berlichingen-Darsteller Felix Defèr („Du bist der Sprengmeister, André!“), Linke-Chef Wulf Gallert („Dass jemand, der Mut zeigt, seine Stelle verlieren kann, ist ein Skandal“), Claudia Dalbert („Fordern Sie die Politiker heraus! Nerven Sie! Das brauchen wir in diesem Land“), der Halberstädter Intendant Johannes Rieger („Bücker hat das Theater immer etwas größer gedacht als die Kommune, die Region“), Theater-Pressefrau Franziska Blech („nachgeben ist nicht seine Stärke, aber es war eine tolle Zeit“), der Staatssekretär Hofmann-Parodist Sebastian Müller-Stahl als Mr. Hopeman („wunderbarer Anlass, endlich verlässt einer der letzten Querulanten das Land“), Yvonne Döring, Michaela Dazian und Ulrich Fischer („Ein letztes Mal in deine Richtung: Venceremos!“) vom Theater Eisleben, Gerald Fiedler mit seinem Mitmach-Song „Haseloff und Bullerjahn“, die aufmunternde Initiative „Pro Holzweg“ Sachsen-Anhalt, Falkenberg, Matthias Brenner und Alexander Suckel aus Halle. Die Pianistin Ragna Schirmer spielt den letzten Satz der letzten Klaviersonate von Beethoven und schreit mittendrin auf: „Da fehlt ’ne Taste! Huh!“. Worauf es drei Kommentare aus dem Saal setzt: „Und keiner hat’s gemerkt!“ Und: „Das war das Kultusministerium!“ Schließlich: „Das kann nur in Magdeburg passieren.“

Gregor Gysi lobt Bücker, weil er „politisch, humorvoll und unterhaltend“ sei und „das ist einfach zu viel“. Er lobt den CDU-Mann Marco Tullner, weil er in der Lage ist, über die Partei-Schranken hinweg „anständig Abschied“ von Bücker zu nehmen. Und er dekretiert: „Der letzte Zweck von Politik muss ein Mehr von Kultur sein.“

Mit Spannung wird die Ansprache von Philipp Oswalt verfolgt, dem 2014 von der Landesregierung aus seinem Amt entfernten Bauhaus-Direktor. Oswalt, der heute Architekturtheorie in Kassel lehrt, sagt: „Diese Veranstaltung ist ein Zeichen der Verteidigung der Liberalität und Kultur der Freiheit, und die findet hier bei den Linken statt.“ Er spricht von der Landesregierung als „unsouveränem Souverän“, der „Null Toleranz“ gegenüber Kritikern walten lasse. Er spricht von dem ihm offensichtlichen Wunsch nach einem staatstragenden Theater und davon, dass es im Absolutismus einen Hofnarren gegeben hat. „Man sollte ihn in Sachsen-Anhalt wieder einführen. Aber dafür fehlt der Humor.“

„Sachsen-Anhalt: Kernland deutscher Kultur, voller Potenziale, toller Menschen.“

Die heutige Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Birgitta Wolff, die 2013 von Ministerpräsident Reiner Haseloff wegen Widerspruch gegen die Hochschul-Kürzungspolitik als Wissenschaftsministerin entlassen wurde, lässt von Lydia Hüskens ein Grußwort verlesen, überschrieben „Sachsen-Anhalt: Kernland deutscher Kultur, voller Potenziale, toller Menschen.“ Darin heißt es: „Sachsen-Anhalt: Sich selbst unterschätzend,/ Sich um sich selber drehend,/ Sich selbst behindernd./ Dynamik nicht zulassend./ Denn: Dynamik braucht Kreativität,/ Dynamik braucht Innovation/Aber:/ Innovation braucht Freiheit,/ Funktioniert nicht auf Bestellung,/ denn was bestellt wird, ist bereits gedacht./ Sachsen-Anhalt:/ auf der Suche nach der Stärke,/ anderes Denken zuzulassen./ Viel Erfolg Sachsen-Anhalt!“

Es ist ein Abend der Kämpfer und Enthusiasten, der Gerechten und ab und an auch Selbstgerechten, denn es fehlen auf Dauer dann doch ein paar Momente von Selbstreflexion. Etwas „Entschleunigung“, wie Matthias Brenner von der Bühne aus einwirft, der gemeinsam mit Alexander Suckel den „Sommernachtsball“ von Veronika Fischer singt („Abend kommt./ Sonne geht./ Zündet die Lichter an“), eine ganz anrührende, nach all dem Sturm grundentspannende Pause, mit der alles hätte gut sein können. Aber die Einen-hab-ich-noch-Dramaturgie beschert dem Publikum noch eine von Matthias Brenner innigst gegrollte Seeräuberballade, lautstark mitgesungen im Saal: „O Himmel, strahlender Azur!/ Enormer Wind, die Segel bläh!/ Lasst Wind und Himmel fahren...“

Schließlich tritt André Bücker auf die Bühne. „Ich bin tief bewegt. Und ganz glücklich“, sagt er. Er dankt seiner Frau, seinen Weggefährten, spricht von seinem Sohn, der in Dessau geboren wurde, auch etwas, was ihn mit dieser Stadt verbinden werde. Eine Stadt, die er nicht verlässt. „Wir werden erst einmal dableiben“, sagt er. „Nicht weggehen, um weg zu sein. Sondern bleiben, um etwas machen.“ Hopeman hat sich zu früh gefreut. (mz)

Matthias Brenner (li) und Falkenberg singen „Still und schön“.
Matthias Brenner (li) und Falkenberg singen „Still und schön“.
Katja Müller Lizenz
Standing Ovations: vorn (Mi) Ex-Bauhaus-Chef Philipp Oswalt
Standing Ovations: vorn (Mi) Ex-Bauhaus-Chef Philipp Oswalt
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Kulturpolitiker Mr. Hopeman (Sebastian Müller-Stahl)
Kulturpolitiker Mr. Hopeman (Sebastian Müller-Stahl)
Katja Müller Lizenz