MZ im Gespräch mit Christoph Schlingensief MZ im Gespräch mit Christoph Schlingensief: «Ich bin doch kein Pädagoge!»

Berlin/MZ. - Herr Schlingensief, sind Sie politikverdrossen?
Schlingensief: Nein. Ich habe nureinen anderen Begriff von Politik.
Was eigentlich ist "Politik", so ganzlehrbuchmäßig gesehen?
Schlingensief: Das ist ein globalerBegriff, der sich von der antiken "Polis",dem klassischen Stadtstaat herleitet. Fürmich ist Politik ein Transformationskörper,praktisch eine Einrichtung, in der wir mitgroßen Schmerzen den Schmerz des anderen aushalten,um daraus etwas Positives, vielleicht etwasGlückliches zu formen.
Wie sieht Politik heute aus?
Schlingensief: Politik von heute istMachtmissbrauch und Volksbetrug. Kompetenzteamswohin man sieht und drin sitzen Geldwäscher,Schwarzkontenverwalter und Hochstapler. Politikist mittlerweile eine Simulation, die nurso tut, als würde sie Probleme lösen. Undwir lassen uns darauf ein. Und wenn dann dieFlut kommt ist alles zu spät und wir merken,man hat uns verkauft!
Wie sähe Ihr Ideal-Politiker aus?
Schlingensief: Das wäre ein Mensch,der sich nicht scheut, seine Fehler zuzugeben,der auf eine Frage auch einmal mit dem Eingständnisvölliger Ratlosigkeit antwortet. Und der dasnicht allein aus Kalkül macht, sondern inder Schilderung seines Schmerzes und Scheiternsauch mich trifft und provoziert.
Gibt es einen Politiker, der Ihnen Vertraueneinflößt?
Schlingensief: Das ist schwierig.Das Kalkül und die Show, die heute im Politischenherrschen, sind keine Effekte, die ich suche.Beides sind eher Defekte von Politik und Selbstbetrugim Zusammenleben der Polis.
Wie haben Sie das TV-Duell Stoiber-Schrödergesehen?
Schlingensief: Ich dachte, ich habees mit zwei Hamlet-Darstellern zu tun, diesich gerade beim Theater bewerben. Stoiberwar supernervös, wusste nicht, in welche Kameraer sehen soll - geht ja auch nicht, er mussteja ständig etwas simulieren. Schröder gabden enttäuschten Hamlet, der eine Depressionkriegt und glaubt, er habe es wenigstens versucht;dann kam er aber nicht mehr in Fahrt. In demMoment hat seine Simulation versagt. In diesemMoment bin ich dann eher pro Schröder: Derbrachte immherin zum Ausdruck, er habe Fehlergemacht. Schröder würde ich deshalb eine gewisseLernfähigkeit zusprechen.
Das Aktion 18-Wahlprogramm fordert dasEnde der Entertainisierung von Politik. AnwortenSie mit Entertainisierung?
Schlingensief: Nein, denn ich habeeinen anderen Begriff von Entertainment. Polit-Entertainmentist das Guido-Mobil, eine Art Zirkus auf Rädern.Westerwelle als unglaubwürdiger Löwenbändigerund Möllemann springt aus der Zirkuskuppel.Alles ratlos! In Wirklichkeit können sie mitniemandem zusammen spielen. Die FDP ist genaudie Partei, die zeigt, wie Politik auf denHund kommt.
Und was wollen Sie?
Schlingensief: Ich beziehe mich aufArtaud, auf das "Theater der Grausamkeit".Bei meinen Veranstaltungen geht es mehr umdie Formulierung eines gemeinsamen Schmerzes.Ein Schmerz der verbindet, den man benutztund der nicht einfach weggelogen wird, bloßweil jeder an die Macht will.
Das vollständige Interview lesen Sie in der Printausgabe vom 3.9. 2002