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MZ im Gespräch MZ im Gespräch: Christoph Hein: «Wer fremd war, blieb es auch»

19.03.2004, 16:33

Halle/MZ. - Herr Hein, Sie stammen aus Schlesien, begreifen Sie sich selbst als ein Vertriebener?

Christoph Hein: In einer gewissen Weise überhaupt nicht, weil ich die Landschaft meiner Geburt nicht kennengelernt habe und bis heute nicht kenne. In einer anderen Weise schon, weil ich so etwas wie Heimat in Deutschland nicht habe.

Was nennen Sie Heimat?

Hein: Das, was für jeden Menschen wichtig ist: So eine kleine Ecke, einen Kiez zu haben, etwas Vertrautheit. So etwas habe ich nicht.

Das hängt mir der Vertreibung Ihrer Familie zusammen?

Hein: Ja, und damit, dass ich mit 14 die DDR verlassen musste, um in Westberlin ein Gymnasium zu besuchen. Ich könnte keine Ecke in Deutschland nennen, mit der ich heimatliche Gefühle verbinde.

Ist der Heimatverlust in Ihrem Elternhaus präsent gewesen?

Hein: In den Erzählungen meiner Eltern und ihrer Freunde. Meine Eltern sind Uralt-Schlesier, denen ihre Heimat sehr viel bedeutete. Sie haben sich Literatur und Schallplatten in schlesischer Mundart aus Westdeutschland besorgt, im Osten gab es so etwas nicht. Mein Vater, der Pfarrer war, stammt aus einer Familie, die über mehrere Generationen Pastoren in Schlesien stellte. Es kamen Leute aus der alten Heimat zu uns, nur um meinen Vater zu sehen.

Woher rührt die Konjunktur des Themas Vertreibung?

Hein: Das hat mit dem Zusammenwachsen Europas zu tun. Mit der sich offenbar abzeichnenden Möglichkeit, auf dem Klageweg zu erwirken, dass ein EU-Bürger einem anderen EU-Bürger Eigentum zurückgibt. Als ich im November 2002 mein Manuskript im Verlag abgab, fing das an. Dass ich nun in so eine Aktualität hineinrutsche, ist für meine Arbeitsweise und Schreibhaltung überraschend.

Darf man davon reden, wie es mehrfach im Echo auf die "Krebsgang"-Novelle von Grass geschah, dass "Vertreibung" in der DDRein Tabu-Thema gewesen wäre?

Hein: Ich denke schon. Es war auf jeden Fall politisch nicht korrekt, darüber zu sprechen; nicht verboten, aber nicht erwünscht. Aus einem einfachen Grund: Die vertreibende Nation war inzwischen Bundesgenosse der DDR. Umgedreht wusste man im Westen sehr wenig über den Bomberkrieg gegen Deutschland. In der DDR kannte man das, denn diese Angriffe erfolgten nicht von Osten, sondern von Amerika und England her, den neuen Bundesgenossen Westdeutschlands.

Wo findet die Ost- und West-Scheu vor dem Thema Vertreibung ihren gemeinsamen Nenner?

Hein: Das ist das Problem, das in meinem Roman angesprochen wird: Dass es vielen Vertriebenen und Umgesiedelten in Deutschland Ost wie West - und in Westdeutschland fast weniger als in Ostdeutschland - nicht gelungen ist, eine Landnahme zu machen. Man hatte es selber schwer genug 1945 und dann kamen welche, die noch weniger hatten oder gar nichts, und die versorgt werden mussten. Diese Menschen waren unerwünscht, genauso ihre Geschichten. Ich habe es in Dörfern in Hessen und Sachsen erlebt, dass diese Menschen bis heute nicht richtig dazu gehören.

Ist der Streit um eine zentrale Vertreibungsgedenkstätte eine Diskussion, die Sie berührt?

Hein: Nein. Ich benötige keine Denkmäler, weder dieses noch andere. Spannend finde ich aber, dass in der Literatur und in den Diskussionen zum Thema Vertreibung bislang nur von dieser selbst oder der Geschichte davor die Rede war. Mein Roman setzt erst 1950 ein. Es sind die folgenden Jahre, die in einer solchen Gedenkstätte hinzukommen müssten. Die Frage, was mit den Vertriebenen in Deutschland geschah, ist für die Sicht auf das Thema mindestens so entscheidend wie die Vertreibung selbst.

Ihr Roman "Landnahme" spiegelt in fünf Erzählungen das Leben des Flüchtlingssohnes Bernhard Haber. Dessen Ausgrenzung wirft diesen einerseits auf sich selbst, andererseits in die Gruppe der Vertriebenen zurück. Wieviel Anteil hatte die Ausgrenzung der Flüchtlinge hierzulande an der Dauerpräsenz ihres Themas?

Hein: Wenn die Landnahme stattgefunden hätte, wenn die Flüchtlinge tatsächlich aufgenommen worden wären, wäre die Vertreibung heute kein Thema mehr. Die Vertriebenenverbände sind ja deshalb so mächtig und kräftig, weil sie immer noch Menschen vertreten, die sich heute noch als

Vertriebene fühlen und fühlen müssen und die nur deswegen zu Pfingsten in ein stickiges Zelt ziehen. Wenn sie in dieses Zelt treten, sind sie Deutsche erster Klasse, wenn sie wieder zurückkommen in ihr Dorf, sind sie Deutsche zweiter Klasse.

Ihr Roman-Titel "Landnahme" ist ein Begriff von flirrender Präzision, der über eine kulturelle und psychische genauso wie eine wirtschaftliche Dimension verfügt.

Hein: Der Verlag wollte diesen Titel zunächst nicht, er war zu merkwürdig. Das Wort gab es nicht in der Umgangssprache. Interessant ist, dass nachweisbar durch diesen Romantitel ein Wort zurückgeholt worden ist, das eigentlich sehr schön ist. Landnahme war stets der wichtigste Grund für einen Krieg, nicht nur im Mittelalter. Noch die Kriege, die wir heute erleben, haben alle mit Landnahme zu tun.

Der junge Haber gewinnt mit den Jahren Land, verliert aber an Autonomie. Gibt es ein ursächliches Verhältnis zwischen dem Anhäufen von Eigentum und Status und dem Verlust von innerer Freiheit?

Hein: Um es mit zwei Worten zu sagen: Eigentum zivilisiert. Wenn man böse wäre, könnte man das nicht ganz unzutreffende Wort von Anpassung gebrauchen. Dieser Haber war die ganze Zeit unzivilisiert und rastete bei jedem Unrecht aus. Als sein Hund umgebracht wird, ist er bereit, den Mörder des Hundes zu ermorden.Es ist das Eigentum, das ihn bändigt. Wie heißt es bei Brecht? "Fast ein jeder hat die Welt geliebt / Wenn man ihm zwei Hände Erde gibt."

Haber senior, ein einarmiger Tischler, zieht den Spott seiner Umwelt punktgenau auf sich. War die Verachtung, die die nicht willkommenen Vertriebenen nach 1945 auf sich zogen, eine umgelenkte Verachtung, die man der eigenen jüngsten Vergangenheit nicht entgegenbringen konnte?

Hein: Vielleicht. Das haben wir nicht nur bei den Deutschen, dass man sehr schnell ein neues Subjekt sucht, auf das mit Fingern zu zeigen ist, um davon abzusehen, was man selbst gerade gemacht hat. Es verbindet sich leichter mit unserem Stolz. Nietzsche hat es so gesagt: ",Das habe ich getan', sagt mein Gedächtnis. ,Das kann ich nicht getan haben' - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach."

Man darf nicht übersehen, dass der Nationalstolz hierzulande eine enorm wirksame Kraft ist. Wenn

in dieser Sache etwas schief läuft, kann das verheerende Folgen

haben. Das ist einer der Punkte, der mit der Ost-West-Diskussion über das Nicht-Zusammenwachsen zu tun hat, nämlich dass viele im

Osten meinen, dass sie in ihrem Stolz verletzt werden. Auch die Ostalgie-Geschichten haben damit zu tun.

Sie schildern in Ihrem Roman eine regionale ostdeutsche Wirklichkeit, ohne DDR-begriffliche Zaunpfähle zu setzen.

Hein: Die sind gesetzt, nur etwas feiner. Es fehlen ein paar Abkürzungen, aber die finden sich in all meinen Büchern nicht.

Es gibt einige westdeutsche Rezensionen, die das Fehlen einer ausgewiesenen DDR-Wirklichkeit als einen Mangel des Romans registrieren; das ist interessant. Offenbar wirkt jene Freiheit als verstörend, die - der äußeren Unfreiheit zum Trotz - nahezu ein Jeder in seinem jeweils eigenen Handeln in der DDR doch hatte. Es gab keine automatisierten Zwänge zum Opportunismus oder Widerstehen.

Hein: Mir fiel das auch auf. Ich denke, da ist ein rein ideologischer Blick am Wirken. Es fehlt ihnen die SED, die Stasi oder sonst etwas. Wenn sie genauer hingucken würden, könnten sie feststellen, dass all das auch vorkommt; sie haben es aber nicht gesehen, weil das Wort nicht fällt. Seit 1989 gibt es im Westen ein neues Bild von der DDR und das heißt: Stasi und Trabi. Dieses Muster unterlaufe ich.

Sie bezeichnen sich selbst als einen "Chronisten ohne Botschaft". Die Formel hat etwas von einem weißen Schimmel: Nachricht ist ja nicht Botschaft. Oder doch? Anders gefragt: Ist, wie im Fall von "Landnahme", ein 350-Seiten-Roman ohne Botschaft zu haben?

Hein: Ich bemühe mich darum. Ich versuche, was ich gesehen, gehört und erfahren habe, wertfrei aufzuschreiben ohne jede moralische Wertung - die will ich gern dem Leser überlassen. Ich gebe zu, dass es mir vermutlich nicht ganz gelingt. Man wird, wenn man will, meine Haltung erkennen können; wobei genau das große Missdeutungen sein können. Ich schätze die Moral im Privaten, in der Literatur aber ist sie so fehl am Platz wie eine Ideologie. Sie würde den Blick verändern, die Figuren besser oder schlechter machen.

Wieviel Humor verträgt die Chronik?

Hein: Da ich mich zu den deutschen Humoristen rechne, denke ich, ist der Roman voll davon. Ein schwarzer Humor, das gebe ich zu, aber ich finde ihn sehr komisch.

Ist Humor nicht selbst auch Botschaft? Nämlich die, will man seine Freiheit behaupten, sich jeweils zu sich selbst in ein spielerisches, also distanziertes Verhältnis setzen zu müssen?

Hein: Nicht distanziert, sondern gelassen. Humor ist die Voraussetzung dafür, dass ich in Gelassenheit mit dieser schönen und schrecklichen Welt umgehe. Gelassenheit ist eine freundliche, Distanz eine abwehrende Haltung. Der Humor, den ich meine, geht mit der Gelassenheit einher. Da kann Empathie durchaus am Platze sein, die ist mit Distanz nicht möglich.

Ihr Buch "Landnahme" hat erneut so skurrile Etiketten wie den Wende- oder Einheitsroman auf den Plan gerufen. Welcher Mangel hält diese Wünsche auf Trab?

Hein: Ein Missverständnis der Literatur. Mich belustigt sehr, dass diese Forderung, die für mich sehr nach DDR klingt, aus einer Westecke kommt. Wie im Sozialistischen Realismus schwebt der Staatsauftrag über dem Genossen Schriftsteller.

Liegt es daran, dass man von dem, was "die Wende" war, bis heute kein klares Bild hat?

Hein: Mag sein. Obwohl ich da ein dickes Fragezeichen setzen würde, denn jeder Einzelne hat ein Bild, es gibt nur keinen Konsens. Deshalb hofft man auf so ein "nationales Kunstwerk". Aber keiner wird sich von seiner Meinung, wer da 1989 das Richtige oder das Falsche getan hat, abbringen lassen. Deshalb ist so ein Roman per definitionem und logisch nicht möglich.