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Mitgliedschaft in der Waffen-SS Mitgliedschaft in der Waffen-SS: Die heftige Debatte über Günter Grass hält an

14.08.2006, 12:36
Der deutsche Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass (Archivfoto vom 09.10.2004). (Foto: dpa)
Der deutsche Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass (Archivfoto vom 09.10.2004). (Foto: dpa) dpa

Hamburg/dpa. - «Sicher ist esauch der Versuch von einigen, mich zur Unperson zu machen», sagte derLiteratur-Nobelpreisträger (78) am Montag in einem dpa-Gespräch. DieDebatte um das Eingeständnis des Schriftstellers vom Wochenende gingauch am Montag erregt weiter. Grass hatte in Interviews überraschendenthüllt, dass er als Jugendlicher 1945 ein paar Monate lang derWaffen-SS angehörte.

In seiner am 1. September erscheinenden Kindheits- und Jugend-Autobiografie «Beim Häuten der Zwiebel» (Steidl Verlag) berichtetGrass erstmals über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS.«Deutlicher, genauer aus meiner Erinnerung habe ich nicht ausdrückenkönnen, wie ich mich im Alter von 16/17 Jahren verhalten habe. Unddass ich diesen Makel, und ich habe das als Makel empfunden, über 60Jahre lang zu spüren hatte und versucht habe, daraus meineKonsequenzen zu ziehen. Dem entsprach mein späteres Verhalten alsSchriftsteller und als Bürger», sagte Grass.

Auf die Frage, warum er so lange geschwiegen habe, sagte Grass:«Erst, als ich mich entschlossen habe, über meine jungen Jahre zuschreiben, was mir als jungem Mann widerfahren ist, fand ich dieseliterarische Form. Sie ermöglichte es mir, endlich auch über dieMitgliedschaft in der Waffen-SS zu schreiben und zu sprechen.»

Der Steidl Verlag wies Vermutungen zurück, Grass habe mit demEingeständnis den Verkauf seiner Autobiografie anheizen wollen. DassGrass dieses Thema im Interview mit der «Frankfurter AllgemeinenZeitung» ansprechen würde, sei zwar klar gewesen, sagte eineVerlagssprecherin in Göttingen. «Aber dass es diese Wendung kriegt,hat uns überrascht. Das war in keiner Weise von uns lanciert.»

Die Enthüllung des Autors rief bei Politikern und IntellektuellenEntrüstung und Schweigen, aber auch Solidarität hervor. Der CDU-Kulturexperte Wolfgang Börnsen forderte in der «Bild»-Zeitung, Grasssolle seinen Nobelpreis zurückgeben. Polens früherer Präsident undFriedens-Nobelpreisträger Lech Walesa verlangte von Grass dieRückgabe seiner Ehrenbürgerschaft der Stadt Danzig.

Der Jenaer Historiker Norbert Frei bezeichnete die Mitgliedschaftvon Grass in der Waffen-SS als «keine große Sache». Die Waffen-SS desJahres 1944 sei keine Eliteformation mehr gewesen, sagte derProfessor für Neuere und Neueste Geschichte. Nach Ansicht desHistorikers Arnulf Baring kann die Debatte um den Fall Grass zu einem«gelassenen und damit gerechteren Urteil über die Verstrickung vielerDeutscher in den Nationalsozialismus führen».

Der Präsident der Schriftstellervereinigung PEN-ZentrumDeutschland, Johano Strasser, nahm Grass in Schutz. Er hält dieteilweise heftige Kritik an Grass für «fürchterlich überzogen». Vielewollten Grass offenbar «etwas heimzahlen».

Scharfe Worte fand dagegen Literaturkritiker Hellmuth Karasek.Grass habe den Nobelpreis «wie kein anderer deutscher Schriftstellerverdient. Aber ich denke, er hat ihn sich erschlichen. Denn ichglaube nicht, dass er ihn bekommen hätte, wenn das bekannt gewesenwäre». Zur Frage, warum sich Grass erst so spät äußerte, sagteKarasek, wenn man wie Grass lange auf den Nobelpreis hoffe, «dannwird man das nicht mit unnötigen Details belasten».

Auch aus der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland gab es teilsheftige Kritik an Grass: «Es ist ein merkwürdig spätes Bekenntnis,dass mir keinerlei Hochachtung abnötigt», sagte der Vorsitzende derjüdischen Gemeinden in Niedersachsen, Michael Fürst, der «Netzeitung»(Dienstagausgabe).

Rückendeckung kam von dem jüdischen Schriftstellerkollegen RalphGiordano («Die Bertinis»): «Günter Grass war 1933 sechs Jahre alt.Was konnte er zu dieser Zeit angesichts des übermächtigenPropagandaapparats der Nazis anderes als Nazi werden? - Nichts»,sagte der 83-Jährige in einem Interview mit den «StuttgarterNachrichten» (Dienstagausgabe). «Ich glaube, er hat schwer daruntergelitten, dass er das verschwiegen hat.»

Der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson nannte das späteBekenntnis eine «schreckliche Geschichte». «Man glaubt, man kennt dieMenschen, aber von dieser Neuigkeit bin ich völlig überrascht. Manstelle sich vor: 60 Jahre Schweigen.»

Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte sich in die Debatte um denSchriftsteller nicht einmischen. Der Bundesregierung stehe es nichtan, «jetzt öffentlich zu urteilen und den moralischen Stab zubrechen», sagte Vize-Regierungssprecher Thomas Steg. VizekanzlerFranz Müntefering (SPD) hätte es allerdings begrüßt, wenn Grass seineMitgliedschaft in der Waffen-SS früher offenbart hätte. Dies sei aberkein Grund, mit «Hochmut über ihn herzufallen», sagte Müntefering.

Zu seiner Enthüllung will sich Grass an diesem Donnerstag im ARD-Fernsehen äußern. Er wird Fragen von «Tagesthemen»-Moderator UlrichWickert beantworten. Dessen neue TV-Reihe «Wickerts Bücher» wird ausdiesem Anlass vorgezogen.