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Mit sächsischem Witz Mit sächsischem Witz: Tom Pauls erklärt Lene Voigt seine Liebe

Von Kai Agthe 24.01.2018, 10:00
Der Schauspieler, die Kunstfigur und die Erinnerung deren Schöpferin: Tom Pauls als Rentnerin Ilse Bähnert am Grab von Lene Voigt in Leipzig
Der Schauspieler, die Kunstfigur und die Erinnerung deren Schöpferin: Tom Pauls als Rentnerin Ilse Bähnert am Grab von Lene Voigt in Leipzig Pauls/Archiv

Halle (Saale) - Als die Frage im Klassenraum stand, welcher Schüler den „Erlkönig“ aufsagen wolle, meldete sich der kleine Tom Pauls. Er rezitierte den Klassiker fehlerfrei und erhielt dennoch eine glatte Fünf für seinen Vortrag. Das Kind verstand die poetische Welt nicht mehr: Alles richtig gemacht und doch alles falsch? Des Rätsels Lösung: Der Knabe sagte nicht das Goethe-Original auf, sondern die humoristische Nachdichtung von Lene Voigt (1891-1962) in sächsischem Dialekt.

Deren Fassung, „Dr Erlgeenich“ betitelt, beginnt mit den Worten: „Ä Babba, där reidet mit Gustav, sein Sohn, / Seit anderthalb Stunden dorchs Rosendal schon …“ Die Mitteilung der Lehrerin an die Eltern des jungen Rezitators lautete denn auch: „Tom verunglimpft die Sprache der deutschen Klassiker und macht sich mit seinem parodistischen Vortrag des Erlkönigs lustig.“ Nichts dergleichen hatte das Kind im Sinn. Es gab nur ehrlichen Herzens wieder, was im Familienkreis kursierte.

Diese Anekdote eines Missverständnisses steht am Anfang der Liebeserklärung „Meine Lene“, die Tom Pauls auf über 300 Seiten der Dichterin Lene Voigt darreicht. Der Schauspieler und Kabarettist wurde mit einer ihrer Figuren - zumindest ostdeutschlandweit - berühmt: In der Rolle der sächsischen Rentnerin Ilse Bähnert begeistert Pauls sowohl die Gäste von Kleinkunstbühnen als auch die MDR-Zuschauer.

Ein Lebensgefühl aufzeigen

„Ich suchte in einer Zeit, als Sachsen wieder Sachsen heißen durfte, Figuren, um das Lebensgefühl der Menschen in diesem Land zu zeigen“, schreibt Pauls. Er fand sie in „der Bähnerten“, die Lene Voigt in den 1930er Jahren erfand. „Die lustige Witwe aus Sachsen ist eine Kleinbürgerin, die sich stets dagegen wehrt, kleinbürgerlich zu sein.“ Ilse, so Pauls, sei heiter und optimistisch, etwas schnippisch, aber lebensklug. Genau diese Mischung treffe den Nerv des mitteldeutschen Publikums.

Was lag also näher, als nach den vielen Jahren, in denen der Schauspieler mit der Lene-Voigt-Figur so erfolgreich war, sich bei deren Schöpferin zu bedanken. Und zwar in Gestalt einer Romanbiografie, in der Pauls Fakten und Fiktion verknüpft und, wie oben angedeutet, eigene Erfahrungen über den Umgang mit den Texten der Leipziger Mundart-Nachtigall einstreut.

Voigt war ein lyrisches Naturtalent, der die Verse schon in jungen Jahren förmlich zuflogen. Nach einem von der 13-Jährigen verfassten Spottgedicht auf einen ungeliebten Lehrer von diesem beauftragt, ein Gedicht zu einem historischen Thema zu verfassen, schrieb sie dieses noch am selben Tag - um sich dann von dem Pädagogen vor der Klasse sagen lassen zu müssen, sie sei eine Betrügerin, die ein formvollendetes Gedicht eines anderen Verfassers für ein eigenes Werk ausgebe...

Ihre meist humoristischen Texte entstanden zunächst in den Nachtstunden, am Tag arbeitete Voigt als Verlagskontoristin. Ihre Verse gefielen dem Publikum, das sie erst in Zeitungen und Zeitschriften, später auch in Büchern lesen konnte. Mit den liebevollen Betrachtungen über ihre Landsleute und bald auch mit den Nachdichtungen von Texten deutscher Klassiker wie Goethe („Dor Zauwerlährling“) und Schiller („De Reiwr“) wurde sie zum Mundart-Star.

Privat war dieser scheinbar immer frohgemuten Lene Voigt wenig Glück beschieden. Ihr Sohn starb mit fünf Jahren, die Ehe mit dem Kindsvater wurde geschieden und ihr zweiter Partner starb früh. Den Schicksalsschlägen versuchte Voigt durch Umzug an die Nordsee zu entkommen, wo sie aber weder Ruhe fand noch den Hintergrund hatte, den sie für ihr Schreiben brauchte: ihr Leipzig, „wo die Bleisse bläddschert“. Zu allem Überfluss musste sie nach 1933 erleben, dass ihre Texte im NS-Staat als „Ausdruck einer undeutschen Haltung“ denunziert wurden.

Jahre in der Psychiatrie

Davon hat sich Voigt nicht mehr erholt - buchstäblich. 1936 wegen einer Psychose behandelt, kam sie mit der Diagnose Schizophrenie 1940 erstmals und 1946 wieder in die Leipziger Universitäts-Nervenklinik, später in das Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie Leipzig-Dösen, das sie - auch als sich keine akuten Symptome mehr zeigten - bis zu ihrem Tod 1962 nicht mehr verließ. Die Welt hatte sie da längst vergessen.

Wie Lene Voigt zu Ilse Bähnert kam, lässt Pauls natürlich nicht unerwähnt: Als Voigt eines Tages nach Hause kam, hörte sie die Nachbarinnen Middlich und Bähnert im Treppenhaus tratschen. Den mitgehörten Dialog schrieb sie auf und befand, dass vor allem „die Bähnerten“ eine wunderbare Figur sei. So trat jene Rentnerin in die literarische Welt, die darzustellen für Tom Pauls zur Rolle seines Lebens wurde. Und wenn er Kittelschürze und Perücke trägt und im sächsischen Singsang dem Publikum die Welt aus Ilse Bähnerts Sicht erklärt, dann weiß Pauls: „Über ihr schwebt der Geist von Lene Voigt.“

Tom Pauls (mit Peter Ufer): „Meine Lene - Eine Liebeserklärung an die Dichterin Lene Voigt“, Aufbau Verlag, 335 S., 20 Euro. Am 18. März liest Tom Pauls auf der Leipziger Buchmesse.

(mz)

Die junge Frau als Dichterin: Lene Voigt um 1911
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Lene-Voigt-Gesellschaft