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Mick Jagger Mick Jagger: Die Zunge des Herrn wird 70

Von Steffen Könau 26.07.2013, 04:10
Neulich beim Rockfestival in Glastonbury: Mick Jagger vor seinem schicken Zelt.
Neulich beim Rockfestival in Glastonbury: Mick Jagger vor seinem schicken Zelt. @MickJagger Lizenz

Halle/MZ - Der Kerl sieht nicht nur immer noch aus wie früher, er tanzt nicht nur wie damals und singt dazu, als schrieben wir das Jahr 1973 und er habe gerade „Angie“ aus dem Ärmel geschüttelt. Nein, Mick Jagger, der heute 70 Jahre alt wird, ist nach genau einem halben Jahrhundert Rock’n’Roll-Karriere auch immer noch unterwegs, unverschämt grinsend, unverschämt erfolgreich und unverschämt heutig.

Gerade erst twitterte der Jubilar, seit zehn Jahren englischer Lord, höchstselbst ein Foto von sich, aufgenommen auf Britanniens größtem Rockfestival in Glastonbury. Mit Seidenschal und Blazer über einer schrillgrünen Kapuzenjacke steht der erfolgreichste Rocksänger der Weltgeschichte darauf vor seinem Festivalzelt. „Ich und meine Jurte“, schrieb Jagger darunter.

Wenige Tage später spielte seine Band nicht einfach nur vor 60 000 Fans im Londoner Hyde-Park, nein, sie zelebrierte im Grunde eine Rückkehr nach 44 Jahren.

Damals, 1969, waren Jagger, Gitarrist Keith Richards und Drummer Charlie Watts schon einmal hier aufgetreten. Und von wegen, Drogen und Alkohol machen vergesslich: Mick Jagger hatte sich eigens eine Tunika schneidern lassen, um an das Gewand zu erinnern, das er bei der Premiere getragen hatte. Und um auch die seinerzeit während der Show freigelassenen Schmetterlinge zu würdigen, ließ er hinter sich Schmetterlingsanimationen laufen.

Ein Profi, längst jenseits der gewöhnlichen Verführungen des Rockgeschäfts. Während sich Richards, der handfeste der beiden Glimmer-Twins, die Hits wie „Satisfaction“, „The Last Time“ und „Jumpin’ Jack Flash“ schrieben, immer noch Wodka hinter die Bühne stellen lässt, begnügt sich Jagger mit „Ocean Spray“-Preiselbeersaft, Wasser und einer Flasche französischem Burgunder.

Die wilden Zeiten sind vorbei, die künstlerischen Höhenflüge haben Jagger und Richards ebenso hinter sich gelassen wie die privaten Balgereien und das Armdrücken mit staatlichen Behörden. Jagger, stets der bedächtige, kopfgesteuerte Teil im neben Lennon/McCartney erfolgreichsten Songwriterduo der Welt, hat sich irgendwann Anfang der 80er Jahre abgenabelt vom verrückten Flohzirkus aus immer neuen Touren, Platten, Skandalen und Affären. 20 Jahre nachdem er Keith Richards zufällig beim Warten auf einen Zug in seinem Heimatort Dartford getroffen und die gemeinsame Liebe zu Blues und Rock’n’Roll entdeckt hatte, weigerte sich Jagger plötzlich, Konzerte zu spielen oder zusammen mit Richards zu saufen.

Mit knapp 40 rutschte der Mann, dessen herausgestreckte Zunge zum Symbol für Unangepasstheit geworden war, in eine Art Midlife-Crisis. Mick Jagger ließ sich von seiner ersten Frau Bianca scheiden und widmete dem Model Jerry Hall, der Neuen an seiner Seite, das von hartem Rock unbeleckte Album „She’s the Boss“. Statt auf Richards rüde Riffs zu singen, tänzelte er dann mit David Bowie durch das Video von „Dancing in the Street“. Der Rocksänger Mick Jagger wollte Popstar werden, selbst im Mittelpunkt stehen, nicht mehr Teil der damals gerade müde wirkenden Rolling Stones sein.

Fast wäre die Flucht gelungen, wie Keith Richards später in seiner Autobiografie berichtet hat. „Mein Freund ist damals plötzlich weg gewesen“, sagte Richards, der Jagger bis heute gelegentlich „Ihre Majestät“ oder „Bitch Brenda“ nennt, um zu betonen, dass er dessen Kontrollfreak-Gehabe sowenig schätzt wie seinen Anspruch auf Führung der Stones. „Ich war seit 20 Jahren nicht mehr in seiner Garderobe“, gestand er, wie entfremdet die Glimmer-Zwillinge sind. Allerdings ist es Jagger gewesen, der die dienstälteste Supergruppe des Rock zusammengehalten hat. Während sich die Beatles auflösten, die Kinks zerstritten und The Who 16 Jahre Pause einschoben, ging es bei den Stones immer weiter, selbst nach dem Tod von Brian Jones, dem Ausstieg von Mick Taylor und Bill Wyman und der Krebserkrankung von Charlie Watts.

Jagger, Vater von sieben Kindern und Gelegenheitsschauspieler („Ned Kelly“), ist der Disziplinator des seit 38 Jahren von Ron Wood an der Gitarre verstärkten Rumpftrios. Ein Mann, der mit Ende 60 Ballettunterricht nimmt, ein Mann, der sich eine Stunde vor jedem Konzert einsingt. Ein Mann zudem, der früher als andere erkannte, dass Rockmusik weniger Rebellentum als eine gigantische Entertainmentmaschine ist - die unter bestimmten Umständen sagenhafte Umsätze generiert. Der Sohn eines Sportlehrers und einer Avon-Beraterin hat nicht nur die Stones in die großen Stadien geführt, er hat den Begriff Stadionrock erst erfunden und ihm mit den gewaltigen Shows der „Urban Jungle“- und der „Voodoo Lounge“-Tour einen Inhalt gegeben. Noch größer, noch besser, noch lauter und mit noch mehr spendablen Sponsoren: In den 80er Jahren spielten die Stones nur drei Tourneen, seit 1990 aber zwei Dutzend.

Und noch ist noch lange nicht Schluss. Mehr als 200 Millionen Platten haben Jagger und Co. bis heute verkauft, sie hatten mit 36 die meisten Alben in den US-Top Ten und ihre letzte große Tour, „A Bigger Bang“ genannt, brach mit mehr als einer halben Milliarde Dollar noch einmal den Einnahmerekord der Band U2, die ihn zuvor von den Stones erobert hatte.

Dass der letzte Nummer-1-Hit „Miss You“ ein Vierteljahrhundert zurückliegt, dass die letzten Alben immer nur mehr vom Bekannten boten und es zum Jubiläumsalbum anlässlich des 50. Bandgeburtstages nur zu zwei neuen Stücken auf einer Hitsammlung, nicht aber zu einem neuen Studiowerk reichte - Mick Jagger wird es nicht stören. „Bitch Brenda“ hat sich inzwischen ja sogar mit seinem Antipoden Richards ausgesöhnt. Vielleicht, weil beide wissen: Es ist viel zu spät, um jetzt noch aufzuhören.