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Medien Medien: Alfred Neven DuMont würdigt Rudolf Augstein

08.11.2002, 07:24

Halle/MZ. - Mit Rudolf Augstein, daran ist kein Zweifel, ist der größte Journalist der immer noch jungen Bundesrepublik von uns gegangen. Er hat nicht nur in sage und schreibe 55 "Spiegel"-Jahren Geschichte geschrieben, sondern auch Anfang der 60er Jahre zur Geschichte unseres Landes beigetragen.

Wie alle Großen war auch er mit dem natürlichen Fortune ausgestattet, also der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Nach dreijährigem Militärdienst geriet er 1945 verwundet in die amerikanische Kriegsgefangenschaft. Bereits Ende Januar 1947 erscheint das erste Mal der "Spiegel", in dessen Vorgänger "Diese Woche" Rudolf Augstein bereits ein Jahr zuvor im Alter von 23 Jahren eingestiegen war.

Wir alle wissen, die Bundesrepublik, auch genannt die "Bonner Republik", startet 1949 unter dem bereits gereiften Konrad Adenauer gemächlich, in den ersten Jahren, sicher eher eine Oligarchie als eine Demokratie. Das Gehen in einer bewusst gelebten Demokratie wollte erst gelernt sein. Rudolf Augstein startete aus dem Stand heraus. Er forderte Regierende und Bürger ohne Pardon, verstand sein Blatt als "Sturmgeschütz der Demokratie", deckte erste innenpolitische Skandale und Intrigen auf. War also bereit, sein Blatt und sich selbst unbeliebt zu machen, sich beschimpfen zu lassen. Aber das Ärgernis für seine Gegner: Das Blatt gedieh und wuchs und wuchs und wurde eine Institution des Aufbruchs.

Der Held der Jungen

Dann trat etwas ein, was symptomatisch für jene Jahre war: Rudolf Augstein wechselte für 100 Tage seinen Schreibtisch in der Spiegel-Redaktion mit der Gefängnis-Zelle. In diesen Tagen sind die Umstände noch einmal von den Medien sattsam begleitet worden. Franz Josef Strauß, der junge Verteidigungsminister, gestärkt durch den Bundeskanzler Konrad Adenauer, wollte die unliebsamen Kritikaster an einem Präzedenzfall zu fassen bekommen. Und so kamen der Herausgeber und seine beiden Chefredakteure in Haft. Landesverräterische Elemente im Spiegel wurden gewähnt. Die Verhaftungen lösten weit über die Nation hinaus Unruhe, Bestürzung und Kritik aus. Der Verteidigungsminister stürzte, und er macht mit diesem Sturz den Weg frei für den Aufbruch zu mehr Demokratie in der Bundesrepublik, der einige Jahre später Wirklichkeit werden sollte - ein Rohrkrepierer für die Konservativen. Das Strafverfahren gegen Rudolf Augstein wurde mit großer Verspätung im Mai 1965 wegen Mangels an Beweisen eingestellt. Aber er war in der Zwischenzeit ein "Hero" geworden für die jungen Deutschen.

Bereits in den frühen 60er Jahren führte uns der Weg zusammen, und der Schreiber dieser Zeilen hält einen Brief des Verstorbenen in seinen Händen aus jenen Jahren. Es war eine gemeinsame Idee, eine Sonntagszeitung herauszubringen, um die Monopolstellung des Springer-Verlages zu brechen. Wir beide waren Feuer und Flamme und scharten eine Anzahl hochbegabter, liberaler Journalisten um uns, die Axel Springer, der gerade "Die Welt" übernahm, auf die Straße gesetzt hatte. Paul Sethe, der große liberale Kopf der Nachkriegs-Ära, er sollte Chefredakteur werden.

Z-TITEL: "Rudolf Augstein bietet sich geradezu als Vater für den Enthüllungs-Journalismus an."

Alfred Neven DuMont

Eine Erinnerung an den 22.11.1963 ist unvergessen geblieben. An diesem Abend war ich zum Essen ins Haus Augstein eingeladen. Wir beide verbrachten mit seiner reizenden Frau einen kurzweiligen Abend, der durch ein Telefonat jäh abgebrochen wurde. John F. Kennedy war in Houston/Texas den Kugeln eines Meuchelmördern erlegen. Wir fuhren gemeinsam in die Stadt, er in die Spiegel-Redaktion, mit versteinerter Miene. Sein Gespür und das unverkennbare Gefühl für Geschichte stand ihm an diesem Abend ins Gesicht geschrieben.

Ausflug in die Politik

Rudolf Augstein versuchte im Jahr 1972 einen Schritt in ein neues Gefilde. Der weltgewandte Publizist und Journalist wagte den Sprung in die Politik, zog mit den von ihm geschätzten Freien Demokraten in den Bundestag ein. Ein Experiment, das nicht gelang, weil der Brauskopf sich jählings als Hinterbänkler im Bundestag wiederfand: Das hatte er sich anders vorgestellt. Und so fand dieser Versuch wieder ein schnelles Ende.

Unter der Leitung von Rudolf Augstein engagierte sich "Der Spiegel" weiter und berichtete über die Fehlentwicklung von Demokratie und Gesellschaft. Rudolf Augstein bietet sich heute geradezu als Vater für den Enthüllungs-Journalismus an, der die gesamten deutschen Medien später erfasst hat: die Flick-Steuermillionen gehören genauso dazu wie die Parteispendenaffäre und vieles andere mehr.

In der ersten Hälfte der 70er Jahre fanden wir uns beide Seite an Seite im Bundesinnenministerium bei einem tagelangen Hearing in einer Rolle, ähnlich wie von Angeklagten, wieder. Für die Zeitschriften- und Zeitungsverlage waren wir beide stellvertretend als Repräsentanten nominiert worden, die Unabhängigkeit und die Freiheit der Presse hochzuhalten.

Unsere "Ankläger" waren sämtliche Journalistenverbände, angereichert durch Gewerkschaftsvertreter und andere so genannte linke relevante Kräfte. Die Pressefreiheit, so verstanden Teile der sozial-liberalen Koalition sie, könne nur durchgesetzt werden, wenn den Verlegern und Herausgebern die Zuständigkeit über ihre Zeitungen und Zeitschriften entwunden werde. Wir kämpften wie zwei Westernhelden, Seite an Seite. Das Pikante an der Situation war, dass der Bundesinnenminister Werner Maihofer, und der Staatssekretär Gerhart Baum als Liberale politisch mit uns beiden in vielen Dingen einer Meinung waren.

Befreiende Bücher

Wie auch immer - hier war der Verleger Rudolf Augstein eindeutig der Sieger und erhielt das Sagen in seinem Blatt, nicht zuletzt auch zum Nutzen des "Spiegel". Trotzdem ließ er sich 1974 vom Zeitgeist der späten 60er Jahre inspirieren und übertrug 49,5 Prozent des Spiegel-Verlages an seine Mitarbeiter. Eine generöse, nahezu einmalige Geste, die er in späteren Jahren wie einen schweren Klotz an seinem Bein empfand. Er hat es nie öffentlich bekundet, dafür war er zu stolz - sicher auch zu fair den Mitarbeitern gegenüber. Aber er musste erkennen, dass die Mehrheit der Angestellten, auch die Wohlwollendsten, keinen Unternehmergeist in sich trugen und nicht bereit waren, für neues verlegerisches Engagement einzutreten. Wie wir später neue Pläne wälzten, gab er schmerzhaft zu, dass er, der Denker und scharfer Beobachter war, diese Konsequenzen seines eigenen Schrittes übersehen hatte.

Vieles gilt es nachzutragen. So etwa Versuche, durch das Schreiben von Büchern der Umklammerung des "Spiegel" zu entkommen. In "Preußens Friedrich und die Deutschen" und später "Jesus Menschensohn", die ich in einem Artikel zu seinem 70. Geburtstag erwähnte, erkannte ich Augsteins unersättlichen Drang, Denkmäler zu stürzen.

Der Preis des Erfolgs

Aber der Preis für seinen außergewöhnlichen Aufstieg, für seinen Wagemut, oft rücksichtslos gegen sich wie gegen andere, wurde eingefordert. Der Griff, sich von den oft schmerzhaften Realitäten des Lebens zu befreien, umklammerte ihn mehr und mehr. Er konnte, obwohl er sich immer wieder dagegen aufbäumte und Anna helfend an seine Seite trat, sich der Versuchung des Rausches immer weniger entziehen. Sein Augenlicht ließ nach, und in den letzten Jahren genügte das Vergrößerungsglas nicht mehr. Er musste sich Tag für Tag das immer wieder neue Geschehen vorlesen lassen.

Er war mehrmals verheiratet, wobei seine Liebe fürs Grazile, Leichtfüßige und Schöne vorherrschte. Seine letzte und fünfte Frau heiratete er nach langer Freundschaft und Zuneigung. Anna Maria Hürtgen war bereit, die immer wieder leidvollen Tage der letzten Jahre mit ihm zu teilen und ihm beiseite zu stehen. Ich traf ihn das letzte Mal vor wenigen Monaten. Sein Augenlicht war fast geschwunden, und wie ich mich hinunterbeugte, um ihn zu umarmen, sagte er: "Du brauchst mir nicht zu sagen, wer du bist, ich erkenne Deine Stimme." Das war ein glücklicher Moment.

Der Griffel ist ihm, im wahrsten Sinne des Wortes, aus der Hand gefallen, als er bereit war zu sterben. Am 26. August dieses Jahres erschien sein letzter Kommentar im Spiegel über den Konflikt USA - Irak. Keine Zeile zur Bundestagswahl im September. Jeder Freund wusste, was die Uhr geschlagen hatte. Als der Journalist Rudolf Augstein nicht mehr schreiben konnte, war seine Zeit abgelaufen.