Martin Wuttke Martin Wuttke: Der Sohn wird zum Spiegel seiner Mutter
HALLE/MZ. - Und obwohl diesem Verdikt eigentlich nichts hinzuzufügen wäre, ist es der Auftakt zu einer drei Jahrzehnte umfassenden Korrespondenz, die erst mit dem Tod der Mutter 1993 endet. Der Verlag Theater der Zeit legt nun den ersten, durch Einar Schleefs Abschied von der DDR 1976 begrenzten Band des Briefwechsels vor. Und damit ist ein Missing Link zwischen den monolithischen Blöcken im Werk Schleefs - seinen Tagebüchern und dem Roman "Gertrud" - gefunden.
Dass bereits vor der Buchmessen-Präsentation Passagen im halleschen Thalia-Theater gelesen wurden, war der am Donnerstag kommender Woche bevorstehenden Premiere von "Gertrud - Ein Totenfest" zu danken - und erwies sich als perfekte Verführung in einen außerordentlichen Text. Denn neben der "Gertrud"-Regisseurin Heike Irmert saß auch der frühere Schleef-Protagonist und heutige "Tatort"-Kommissar Martin Wuttke auf dem Podium, der sich immer tiefer in die Schichten dieses aufhaltsamen Zwiegesprächs grub. Was er zu Tage förderte, war ein ebenso erschütterndes wie erheiterndes Psychogramm eines zugleich sendungsbewussten und von Selbstzweifeln zerfressenen Künstlers, der seiner Mutter auch in der Ferne durch unauflösliche Hassliebe verbunden blieb.
Schon in der ersten Mitteilung aus dem großen Berlin erkennt Einar Schleef, warum man ihn im Elternhaus nicht verstehen kann: "Ihr erwartet etwas ,Festes', ,Bestimmtes', ,Bürgerliches' von mir", schreibt der eben immatrikulierte Kunststudent am 7. September 1964, "aber solange ich an das glaube, von dem ich träume, solange kann mir nichts passieren, solange könnt Ihr ruhig sein". Dass sich diese Selbstsicherheit schon bald als Trugschluss erweisen sollte, belegt die bittere Beichte vom 21. Februar des Folgejahres. "Natürlich wird Euch auch die Schule schreiben, daß ich geflogen bin, aber welch Blödsinn, welche Frechheit, welche Lüge", wütet Schleef gegen seine Dozenten in Weißensee, "ihre Macht ist die Lüge, die absolute Verdammung."
Und Gertrud? Sie mahnt zur Demut, fordert politisches Wohlverhalten und versucht, Einar mit banalen Nachrichten zu erden. Da werden Pakete gepackt und Möbel für die Berliner Wohnung annonciert, da sind Pilze einzukochen und Hosen zu flicken. Dass die Architekten-Gattin in ihrer Arbeit ebenso manisch ist wie ihr Sohn in seinem Metier, wird später Niederschlag in der großen, monologischen Anverwandlung "Gertrud" finden. Vorerst führt die Ähnlichkeit zu Konfrontationen, weil beide Seiten ihre Enttäuschungen aufeinander projizieren: "Du bist einmalig + wie herrlich wir uns hassen", schreibt Schleef am 18. April 1970 nach Sangerhausen.
Es ist eine private Mitschrift, die mit sozialen wie biografischen Details gesättigt ist und ihre Entstehung auch den eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten zu DDR-Zeiten verdankt. Dass sie Gertrud Schleef pünktlich zu ihrem 100. Geburtstag am 18. April ein wenig schmeichelhaftes, aber dafür um so glaubhafteres Denkmal setzt, ist das Verdienst der Herausgeber Susan Todd und Hans-Ulrich Müller-Schwefe. Aber ist das auch jener Einar Schleef, dem Martin Wuttke Anfang der 80er Jahre in Frankfurt am Main begegnete? "In den frühen Briefen", sagt der fragile und hoch konzentrierte Schauspieler nach der Lesung, "ist es noch eine andere Person. Aber später spüre ich seine Vehemenz und seine Empfindlichkeit, seine ungeheure Zärtlichkeit im Umgang mit Arbeit und Menschen."
Der 47-Jährige, der bei Schleef in Frankfurt u. a. in "Mütter" und später am Berliner Ensemble in "Wessis in Weimar" spielte, der mit dem Regisseur dessen "Faust"-Traum vor dem Berliner Schiller-Theater zu Grabe trug und unlängst mit "Gretchens Faust" eine Verneigung vor dem Meister inszenierte, findet traurig-schöne Worte für diesen Lehrer, der nie einer sein wollte. "Ohne Schleef", sagt Wuttke, "würde es mich am Theater nicht mehr geben." Denn das, was in diesen "zwei Händen voll Inszenierungen" entstand, sei ja eben nicht nur ein Interpretationsansatz für einen Text gewesen, sondern eine Haltung zum Leben und zur Arbeit.
Eben diese Unbedingtheit des Anspruchs, die Schleef "weit über den produzierenden Betrieb Theater erhoben" habe, lässt Wuttke nun vor der epigonalen Gedächtnis-Industrie zurückschrecken. "Die Hüter des Werks beschweren unbewusst die Grabplatte", weiß der feinnervige Star, der auch Heiner Müllers letzte Inszenierungen in die Welt wuchtete. Dass ihm selbst an diesem Abend das Gegenteil gelungen ist, dass man den großen Rezitator Schleef mit seinen knappen, scharf akzentuierenden Gesten wieder zu sehen glaubte, war wunderbar. Das Buch aber dürfte für großes Aufsehen sorgen.
Lesung zur Buchmesse mit Sebastian Hartmann und Jutta Hoffmann: 15. März, 11 Uhr, Centraltheater Leipzig