1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Lutz Rathenow: Lutz Rathenow: Es geht nicht nur um Akten

Lutz Rathenow Lutz Rathenow: Es geht nicht nur um Akten

Von ANDREAS MONTAG 13.04.2011, 17:20

BERLIN/MZ. - Zu Ost-Zeiten wurden Schaltstellen in Berlin gern mit Kadern aus Sachsen besetzt. Nun geht ein Berliner nach Dresden, um dort ab Mai die Stasiunterlagen-Behörde zu leiten. So haben sich die Zeiten geändert, in jeder Weise allerdings. Denn Lutz Rathenow, der seit 1977 als freier Autor in Berlin lebt, gehörte eindeutig nicht auf die Seite der Macht, sondern war dem DDR-Staat ein Dorn im Auge.

Nun sitzt Rathenow, Jahrgang 1952, in seiner lichtdurchfluteten Küche am Strausberger Platz an der ehemaligen Stalin-Allee und staunt selber noch ein bisschen über die späte Karriere. Die Liberalen im sächsischen Landtag hatten ihn für die freigewordene Stelle des Landesbeauftragten vorgeschlagen. "Willst du das machen?", fragte er sich selbst und war zugleich natürlich auch stolz, dass da Leute waren, die seine Texte offenbar schätzten und ihm zutrauten, der Richtige für den Job zu sein.

"Eine Festanstellung nach 58 Jahren freiberuflicher Tätigkeit", scherzt Rathenow mit Anspielung auf sein Alter. Tatsächlich hat er, abgesehen von dem halben Jahr, während dessen er nach seiner Exmatrikulation als Beifahrer und Transportarbeiter in Diensten des VEB Carl Zeiss Jena stand, keine Lohnarbeit verrichtet.

In Jena ist Rathenow geboren worden, dorthin ging er nach dem Armeedienst zurück und begann ein Pädagogikstudium für die Fächer Deutsch und Geschichte. Was eine normale DDR-Laufbahn hätte werden können, bekam bald einen Knick. Gemeinsam mit seinem Freund Jürgen Fuchs (1950-1999) und anderen jungen Autoren betrieb er den Arbeitskreis Literatur und Lyrik. Der fiel schnell wegen unfrisierter Gedanken und unbequemer Fragen an die Herren der ostdeutschen Diktatur auf.

Bespitzelung und Verhaftung durch die "Organe" der Staatsmacht waren die Folge, nach der Ausbürgerung des regimekritischen Dichtersängers Wolf Biermann im November 1976 war endgültig Feierabend: Rathenow, wie Fuchs solidarisch mit Biermann, wurde kurz vor dem Examen von der Universität geworfen. Viele Jahre später, in einer neuen Zeit, hat er sein Diplom ehrenhalber nachgereicht bekommen. Eine Professur wird er freilich kaum noch erreichen können. Dass einer wie er zum Hüter der Stasi-Akten bestellt wird, ist nur logisch.

Wie Roland Jahn, der eben Marianne Birthler als Chef der Bundesbehörde für die Stasiunterlagen folgte, gehört Rathenow zum übersichtlichen Zirkel ostdeutscher Intellektueller, die sich dem DDR-System verweigerten und deshalb in ihrer beruflichen Entwicklung nachhaltig behindert wurden.

Vertreter dieser Gruppe kommen nun zum Zuge, einen Sonderfall nennt Rathenow das, danach würden die Akademiker übernehmen. Er hat sich vorgenommen, die Erschließung der Akten energisch voranzutreiben - das Kerngeschäft sozusagen. Vertraut sind ihm die Hinterlassenschaften der Stasi ja - seit dem Tag schon, als er seinem Vernehmungs-Offizier ein Blatt aus dessen Unterlagen vom Schreibtisch "geklaut" hat.

Aber es geht nicht um Akten allein. Rathenow plant, das Amt des Landesbeauftragten als Adresse in Sachen Diktatur-Aufarbeitung und Demokratie überhaupt zu profilieren. Traumatisierten Opfern sollte besser geholfen werden. "Es geht dabei um juristischen Beistand, aber auch um die Erlösung von der Fixierung auf die Vergangenheit", sagt er. Außerdem will er mehr über den Mechanismus der Behörde, über deren Alltag, gerade auch über ihr banales, heute fast skurril anmutendes Funktionieren in Erfahrung bringen und öffentlich machen. Interessant findet Rathenow, wie Angehörige ehemaliger Eliten, in deren Augen die DDR noch längst nicht am Ende war, ihre Biografien zu verteidigen suchten und, gepaart mit reichlich Ostalgie, eine große Ignoranz ausprägten.

Die Unzufriedenen übersähen gern, dass sie schon vor der deutschen Einheit, trotz aller Probleme mit blühenden Landschaften doch ein Geschenk, durchaus verwöhnt worden seien, weil die Sowjets sie immerhin besser behandelten als ihre eigenen Landsleute.

Jeglicher "DDR-ismus" aber liegt Rathenow im Magen. Gefragt, was die Genossen von Staat und Stasi, die sich seinerzeit mit ihm zu beschäftigen hatten, nun von ihm denken würden, antwortet er mit schöner Ironie: "Sie werden sich in ihrer Arbeit bestätigt sehen."