Literatur Literatur: So was von dort
Halle (Saale)/MZ. - An den bizarren Moment in diesem Taxi erinnert sich Tino Hanekamp noch ganz genau. "Du kommst gerade von einem Interview mit Marylin Manson", sagt er, "und bist unterwegs zu einem mit Def Leppard." Linker Hand die Hollywood Hills, vorn Beverly Hills. Tino Hanekamp ist 22 Jahre alt, er fährt durch Los Angeles, um Rockstars zu interviewen, und plötzlich denkt er "der Tisch ist zu groß, meine Beine sind zu kurz, gleich wird einer merken, dass ich das alles gar nicht kann".
Das ist der Hettstedter in Hanekamp, der sich da zu Wort meldet. Der mag es eher klein, der mag es eher sicher, der hat auch immer ein bisschen Angst, was alles passieren könnte. Hanekamp selbst, inzwischen 31 Jahre alt, Betreiber des Hamburger In-Clubs "Uebel & Gefaehrlich" und seit seinem Debütroman "So was von da" eine deutsche Literaturhoffnung, ist ganz anders. Als er damals fortging aus dem Mansfeldischen, wo er geboren wurde und aufgewachsen ist, hatte er nur das Ziel, möglichst schnell und weit wegzukommen.
Weg aus der Enge der Kleinstadt. Weg aus dem Milieu, in dem der Fan von Künstlern wie Jarvis Cocker und Nick Cave sich mit jedem Jahr fremder fühlt. "Ich war der einzige Langhaarige am Gymnasium und dazu noch Schülersprecher", sagt er, "also der absolute Freak". Szenen aus der Provinz, Mitte der 90er: Tino Hanekamp, Mitglied des linken Jugendverbandes Rotfüchse, fährt stets Fahrrad, wenn er irgendwohin will. "Damit ich abhauen kann, wenn Nazis auftauchen."
Dann steht er in Mainz. Es ist der erste Abend in der Stadt, in der er seinen Zivildienst machen will, weil sie so schön weit weg ist von daheim und Freundin Johanna im nahen Wiesbaden wohnt. "Ich stand auf dem Markt, es war wie New York", sagt er, "und plötzlich wurde mir klar: Du musst jetzt keine Angst mehr haben."
Daran hat sich Tino Hanekamp seitdem gehalten. Nach dem Zivildienst ist er viel gereist, dann hat er angefangen, für ein Musikmagazin zu schreiben. Er ist nach Düsseldorf gezogen und hat die letzten schönen Tage der Popbranche genossen. Die Welt war weit, und sie hatte nur auf ihn gewartet. "Mein Traum war es immer, die großen Helden zu treffen", erzählt er. Ehe er noch auf die Mahnungen der Eltern, jetzt aber mal zu studieren, hören kann, ist er schon mittendrin. "Auf einmal Paris, London und LA." Hanekamp, der das journalistische Handwerk bei der Mitteldeutschen Zeitung lernte und heute noch von Geflügelausstellungen als "bester Schule" schwärmt, ist nicht mal Mitte 20, als er im Taxi zu Joe Elliot sitzt. Der hat mit Def Leppard Millionen Platten verkauft. Hanekamp hat als Kind eine Puhdys-Biografie gelesen. Er hat das Gefühl, sich seine Lebensträume schon erfüllt zu haben. "Mir fielen keine Fragen mehr ein, die Leidenschaft war weg."
Ein "stumpfer Barjob" (Hanekamp) soll ihn retten. "Ich dachte, wenn ich nicht denke, kommt eine Idee." Wer nicht sucht, der findet: An der Bar trifft Hanekamp Alvaro Otey, der gerade kündigen will. "Mein Satz 'dann lass uns was Eigenes machen' hatte dann ungeahnte Wirkungen", erinnert sich Hanekamp. Ein leerer Raum in einem alten Kaufhaus wird zur "Weltbühne", wie sie ihren Klub nennen. Und der Journalist aus Hettstedt zum Programmdirektor für die Weltstadt Hamburg.
Es gibt keinen Businessplan, keine Marktforschung, keine Finanzierungsdecke, nur Leidenschaft und die Lust, es zu versuchen. "Ich wusste, dass wir in drei Monaten pleite sind", lächelt Hanekamp, "aber man muss es trotzdem probieren." Angstfrei sei er nie, schüttelt er den Kopf, das sehe nur von weitem so aus. "Was hat man schon zu verlieren außer Geld?"
Damals bei den Rotfüchsen haben sie sich das Leben genauso geträumt. Für etwas brennen wollten sie und an den Verhältnissen rütteln, bis sie sich ändern. Stefan Gebhardt war damals dabei. Der ist inzwischen Landtagsabgeordneter der Linken. Und Sven Johne, der Fotograf, dessen Bilder unterdessen in Rom, Wien und Köln ausgestellt werden. "Meine Klassenkameraden dagegen haben alle was Solides gelernt", sagt Hanekamp. Sie aber, die sich als linke Avantgarde verstanden, wollten mehr als "an der Haltestelle stehen, an der Simson schrauben und Bier trinken."
Woher diese Sehnsucht kommt, weiß Tino Hanekamp selbst nicht. Es gab nicht so viele Bücher zu Hause. "Auch Platten hatten wir nur sechs oder so." Sein erstes Lieblingslied ist dann auch von Flippers gewesen, einer Schlagercombo. "Erst später fing das an, mit acht oder neun, dass ich im Radio Lieder aufgenommen habe und einfach immer mehr wissen wollte über die Bands."
Heute holt er sie persönlich ins "Uebel & Gefaehrlich", die angesagteste Konzerthalle der Stadt, in der die Beatles sich erste Sporen verdienten. Hanekamp, immer im Anzug, immer mit einer Frisur wie der junge Alain Delon, kennt die Bands persönlich. Er kennt inzwischen auch den Alltag der Stars, das Schwere, Graue am Glitzerleben.
Eine Welt voller Selbstausbeutung, sei das, sagt er, in der Menschen für Ideen leben, eine Welt, in der sich Gleichgesinnte finden, die von fern vielleicht wie gescheitert aussehen, "und doch unser aller Leben mit Literatur und Musik bereichern." Kein Zweifel - Tino Hanekamp ist immer noch Fan. Er bewundere Menschen, die für etwas brennen, sagt er. Und versteht die nicht, die schon mit 20 zu Hause sitzen und warten, dass jemand ihnen das Leben im Fernsehen zeigt. "Es gibt heute so wahnsinnig viele Möglichkeiten, da muss man sich einfach den Luxus leisten, nach seiner Leidenschaft zu leben, wenn man kann." Er tut es. Aus der Idee, ein Buch über einen bizarren Mordfall in der alten Heimat zu schreiben, "nur um mir zu beweisen, dass ich das kann", wurde so die grandios chaotische Geschichte von "So was von da". Ein Höllenritt durch eine einzige Hamburger Nacht, 24 Stunden wie aus der Pistole geschossen, Endorphine, Alkohol, Schweiß und Drama, aus jahrelangen Beobachtungen in der Klubkultur zu 300 atemberaubenden Seiten destilliert. Vorbild für den Klub, um den es geht, ist seine alte "Weltbühne", echte Leute aus dem Freundeskreis spielen auch mit, sogar Freundin Johanna hat eine Rolle inspiriert.
Nein, es ist trotzdem keine Autobiografie. Hanekamp schüttelt den Kopf. Gern hätte er sich die Geschichte ausgedacht. "Aber dazu fehlt mir die Fantasie." In Wahrheit sei alles noch viel schlimmer, lacht er. "Nur kann man das nicht schreiben, es würde ja keiner glauben."
Womöglich käme dann noch jemandem dieser dumme Verdacht, den er bis heute ganz allein hat. Der Tisch zu groß ist und die Beine zu kurz! Vom Fuß der Halden ist Tino Hanekamp bis in die Weltstadt gezogen, längst spricht er nicht mehr Elsterglanz-Idiom, sondern das feine Deutsch der Hamburger. Er ist angekommen. Er sowas von dort. Und trotzdem immer noch hier.
Denn Hettstedt geht nicht weg, wenn man aus Hettstedt weggeht. Hettstedt muss immer wieder verlassen werden. Mit einem neuen Abenteuer, mit einem Taxi in LA, mit einem Klub, einem Buch. Tino Hanekamps Debüt hat eingeschlagen. Alle loben es. Er würde am liebsten gleich das nächste schreiben. "Um mir zu beweisen, dass das erste keine Eintagsfliege war."