Literatur Literatur: Nobelpreis geht an britischen Autor

Stockholm/dpa. - Der 69-jährige Kosmopolit sei ein«literarischer Weltenumsegler» und «nur bei sich selbst zu Hause, inseinem unnachahmlichen Ton». Kritiker bezeichnen den seit langem inEngland lebenden Autor dagegen als zynisch und kalt, da er mitVerachtung über Verlierer in früheren Kolonialländern schreibe. DieNobelpreis-Vergabe stieß auf Ablehnung, aber auch Lob.
Nach Auffassung des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki istdie Vergabe an Naipaul «keine Überraschung, aber ein Enttäuschung».Mit ihrem Votum für einen Reiseschriftsteller habe die Akademie zum100-jährigen Jubiläum eine Chance vertan, sagte Reich-Ranicki der dpain Frankfurt. Der ehemalige Kulturstaatsminister Michael Naumannzeigte sich von der Entscheidung überrascht. Naipaul sei zwar einerder «bekanntesten Schriftsteller der Welt», aber er persönlich hätteeinen amerikanischen Autor wie John Updike oder Philip Roth für diebessere Wahl gehalten, sagte Naumann auf der Buchmesse in Frankfurt.Diese Autoren hatte auch Reich-Ranicki als preiswürdig genannt.
Naipauls Werk besteht zum größten Teil aus Romanen und Novellen,aber auch einigen dokumentarischen Schilderungen. Der Autor, der sichselbst als wurzellos beschreibt, gilt als bedeutendsterenglischsprachiger Reiseschriftsteller. Die Handlung seiner frühestenBücher spielt in Westindien. Sein Durchbruch kam 1961 mit dem Roman«Ein Haus für Mr. Biswas» über das Leben seines Vaters. Danachfolgten Reiseberichte unter anderem aus Indien und Afrika.
Naipaul behandelt in seinen Romanen und Erzählungen vor allemRassenprobleme und Beispiele der politischen Unterdrückung sowie dieEntwurzelung des Individuums in der modernen Gesellschaft. NachAnsicht der Akademie hat er «die existierenden Genres umgeformt zueiner eigenen Schreibweise, in der die herkömmlichen Abgrenzungenzwischen Vision und Sachprosa eine untergeordnete Bedeutung haben».Mit seinem hellwachen Stil verwandle er «Zorn in Genauigkeit» undlasse «die Ereignisse mit der ihr eigenen Ironie zu Wort kommen».
In Deutschland fanden seine Romane «An der Biegung des großenFlusses» und die Reiseberichte «Indien: ein Land im Aufruhr» und«Eine islamische Reise: unter den Gläubigen» Beachtung.
Der Verlag Hoffmann & Campe (Hamburg) reagierte sehr erfreut überdie Wahl der Akademie. «Wir hoffen, dass Naipaul damit den Schubbekommt, den er verdient», sagte Geschäftsführer Rainer Moritz aufder Buchmesse. Naipaul habe es zuletzt schwer gehabt, in DeutschlandLeser zu finden. Die beim Verlag vorrätigen Bücher, darunter «Auf derSklavenroute», würden nachgedruckt. Auch Börsenvereins-VorsteherRoland Ulmer freute sich «außerordentlich»: «Ich habe selten einschöneres Buch gelesen als den Roman "Ein Haus für Mr. Biswas".»
Naipaul kam 1932 auf Trinidad in der Karibik zur Welt. SeineFamilie sind Nachfahren hinduistischer Einwanderer aus Nordindien.Der Großvater war Zuckerrohrarbeiter, der Vater Journalist undSchriftsteller. Mit 18 Jahren kam Naipaul nach England, wo erstudierte und noch heute lebt. Immer wieder reiste er aber auch fürlängere Zeit nach Asien, Afrika und Amerika. Mitte der 50er Jahre warer auch als freier Journalist für die BBC tätig.
Der Nobelpreis wurde - mit Unterbrechungen in den Weltkriegen -erstmals vor 100 Jahren vergeben und ist mit zehn MillionenSchwedischen Kronen (2,1 Millionen Mark, 1,1 Millionen Euro) dotiert.
Im vergangenen Jahr hatte die Akademie den im französischen Exillebenden chinesischen Schriftsteller Gao Xingjian mit dem Literatur-Nobelpreis geehrt, im Jahr zuvor den deutschen Autor Günter Grass.Die Auszeichnungen werden traditionsgemäß am 10. Dezember, demTodestag des Preisstifters Alfred Nobel (1833-1896), überreicht. Andiesem Freitag wird der Friedensnobelpreis-Träger bekannt gegeben.