Literatur Literatur: Leidenschaftlicher Leser der mitteldeutschen Landschaft

Halle/MZ. - Tatsächlich kann der Dichter, Erzähler und Essayist, der an diesem Sonntag 75 Jahre alt wird, gar nicht mehr aus der literarischen Landschaft um Weimar herausgedacht werden, wo er seit 1966 lebt. Das heißt: Er liest und schreibt, sieht und geht, also erkundet, erinnert, verortet. Eine Landschaft oder eine Stadt als "Text" zu lesen, das ist eine Werkformel dieses Autors.
Thüringen als Text und Kirsten als dessen öffentlich wirkmächtigster Leser: Das ist die Situation spätestens seit dem Abgang der DDR. Kirsten hat die von 1997 bis 1999 in zehn Bänden verlegte "Thüringen-Bibliothek" begründet, aus der die "Edition Muschelkalk" hervorging. Er ist Vorsitzender der Jury, die den Thüringer Literaturpreis vergibt. Der Träger des Weimarpreises ist ständiger Berater der Literarischen Gesellschaft Thüringens. Kaum eine in Thüringen fällige Laudatio, ohne dass Kirsten zu Wort gebeten wird, zuletzt zum 100. Geburtstag Louis Fürnbergs.
Aber was heißt hier Thüringen? Kirsten, Sohn eines Steinmetzes aus Klipphausen bei Meißen, ist gebürtiger Sachse. Und sogar nach Sachsen-Anhalt wirkt er hinein. Aber es gibt ja kein "literarisches Sachsen-Anhalt", sondern Landschaften, die die politischen Grenzen kulturell unterlaufen. Aber es gibt Mitteldeutschland, zu dessen starken literarischen Stimmen Wulf Kirsten gehört. Ein Dichter, der über Johannes Bobrowski zum Schreiben kam. Der 1969 mit dem "Poesiealbum 4" debütierte, dem Gedichtbände mit Titeln folgten wie "Der Landgänger", "Die Erde bei Meißen" oder "Stimmenschotter". Ein poetischer Landschafter, voll von schöpferischem Eigensinn. Kein Opfer des Weimar-Syndroms: dieser Überforderung, die zu Kitsch und Reklame zwingt.
Kirstens Gegenden - noch vor Thüringen sind das die linkselbischen Böden Sachsens: "die grasigen senken von rindern gefleckt. / am hellichten tag zur saatzeit im hügelland / ich - auf der erde bei Meißen". Warum gerade die? Weil diese Landschaft noch nicht "weggedichtet" war, sagt Kirsten. "Ich wollte kein Nachtreter sein."
Zwei Quellen hat Kirstens Poesie: die sinnfällige Anschauung und die Philologie. Bei dem Germanisten, der am Wörterbuch der obersächsischen Mundarten mitarbeitete, ist die Sprache selbst poesiehaltiges Material. So beginnt das "Meißen"-Gedicht: "hübelhoch kehrte mich der ruppige himmelsbesen." Der Hübel, das ist der Hubbel, der kleine Hügel. Allein dem Dichter Kirsten gleichrangig ist der Essayist, der dieser Tage den Sammelband "Brückengang" vorlegt.
Man muss nur den Aufsatz über den Dichter Jakob van Hoddis (1887-1942) in Thüringen lesen. Hier hat man Kirsten ganz: staunenswerte Genauigkeit, Einfühlungskraft, Lakonie. Ein Mann der Erfahrung, der zum Beispiel Hoddis' Weg von Frankenhain nach Erfurt abwandert, kein Mann der Spekulation - wohlfeiles Psychologisieren ist ihm fremd, dieser moderne Aberglaube. Martin Walser sagte es 1988 so: "Wirkt, verglichen mit einem Kirsten, viel Westliteratur nicht wie Ideologie?" Und: "Der weiß nichts, was er nicht erfahren hat. Das hat zur Folge: Die Sprache urteilt nicht. Sie schleppt Sachen heran. Gegen das Vergessen."
Wulf Kirsten: Brückengang. Essays und Reden. Ammann, 288 S., 21, 95 Euro.