Literatur Literatur: Landolf Scherzer wird 70 Jahre alt
Dietzhausen/dapd. - Landolf Scherzer kehrt seiner Wahlheimat Thüringen immer malwieder den Rücken - mal für Wochen, manchmal für Monate. Zeitlebenshat es den 1941 in Dresden geborenen Schriftsteller für seineReportagen in die Welt gezogen. Der russische Orient, die Wolga undMosambik in Afrika waren Stationen von Scherzers Reisen.
Seine ungewöhnlichste Tour brachte ihn mit einem Fischtrawler derDDR-Hochseeflotte bis vor die kanadische Küste bei Labrador. «DieHände waren dick geschwollen vom Eis und den Giftstacheln derFische. Es war schrecklich und man konnte nicht abhauen», erinnerter sich. Das 120 Tage währende Abenteuer, das er zu dem Buch «Fängerund Gefangene» verarbeitete, zählt er bis heute zu den schönstenErlebnissen seines Lebens. «Der Zusammenhalt unter den Leuten aufdem Trawler war unglaublich. So etwas habe ich nie wieder erlebt»,sagt Scherzer.
Buch über SED-Funktionär bringt den Durchbruch als Autor
Als Autor bekannt wurde Scherzer, der in Leipzig Journalistikstudierte, indes mit dem Buch «Der Erste». Darin beschreibt er dieArbeit des SED-Kreisvorsitzenden von Bad Salzungen und zeigtschonungslos den alltäglichen Wahnsinn des realen Sozialismus mitMangelwirtschaft und frustriertem Proletariat. Über 100.000Exemplare gingen 1989 über den Ladentisch und wurden zum Handbuchfür alle Reformgläubigen in der DDR.
Deren zeitnaher Niedergang bedeutete gleichwohl einen Bruch imLeben Scherzers, der wie viele reformwillige SED-Mitglieder denSozialismus für gut und lediglich dessen Polit-Personal fürFehlbesetzungen hielt. Enttäuscht von der ideologisch gelähmten PDS,deren Mitglied er Anfang der 1990 Jahre ebenfalls noch war, besannsich Scherzer erst spät wieder auf seine Spezialität - diejournalistische Recherche vor Ort.
Den Neuanfang verkörperte dabei ausgerechnet ein westdeutscherBundeswehr-Offizier und CDU-Landrat, den Scherzer bei seinerAufbauarbeit in Bad Salzungen begleitete. Der «Spiegel» lobte die indem Buch «Zweiter» zusammengefassten Beobachtungen als«tiefenscharfe Nahaufnahme der Übergangsgesellschaft» und«Geschichtsschreibung von unten». Mit unaufdringlichem Witz habeScherzer die Betroffenen inklusive Gauner, Spekulanten undWendehälse beschrieben.
Mit «Zweiter» landete Scherzer auch bei den Lesern einenunverhofft furiosen Erfolg. Für Scherzer selbst war das Buch dieAnkunft in der neuen Gesellschaft. Ein weiterer Erfolg blieb ihmallerdings verwehrt. Nicht zuletzt, weil er aus journalistischerÜberzeugung auf «Events» verzichte, wie er sagt. «Ich brauche keinenDalai Lama, sondern will mit einfachen Leuten über deren sozialenProbleme reden».
Desillusioniert vom kapitalistischen System
Treu geblieben ist sich Scherzer auch politisch: Er ist einüberzeugter Sozialist, der Chancengleichheit und gerechteRessourcenverteilung gutheißt. Gleichwohl habe er sich nach 20Jahren Bundesrepublik von der Illusion verabschiedet, dass sozialeGerechtigkeit möglich sei. «Gegen die globalen Mächte des Kapitalsgibt es nicht die geringste Chance auf Veränderung», sagt Scherzerund räumt ein, mit dieser Erkenntnis häufiger in die Nähe vonDepressionen zu geraten. Vor dem melancholischen Stillstand schützeihn lediglich sein Alter, dass ihn die Dinge gelassener sehen lasse.
Seine letzte Rolle sieht Scherzer folglich in der des Bewahrers.Er vergleicht es mit einer Szene, die er 1982 in einem von Dürreheimgesuchten Dorf in Mosambik erlebte. «Da lag eine ganze Familietot in ihrer Hütte. Und auf dem Boden stand ein voller Krug mitMaiskörnern - übrig gelassen für die nächste Aussaat», sagtScherzer.