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Literatur Literatur: In Frankreich sind Comics nicht immer komisch

Von Elena Senft 17.08.2006, 12:38

Paris/dpa. - Jetzt steht er am Nachmittag in dem kühlenSouterrain des Comic-Ladens im Pariser Quartier Latin am BoulevardSt. Germain und blättert. Zwischen schwarzen Regalen und Tischen, indenen die Bücher und Hefte mehr oder weniger alphabetisch einsortiertsind. Zwischen Schaukästen mit «Tim und Struppi»-Pullovern und«Lucky-Luke»-Spielfiguren. Und zwischen den anderen, die auf derSuche sind und wahrscheinlich fündig werden.

«Album» ist einer der beliebtesten Comic-Läden des Quartier Latin,einer der größten von ganz Paris und - 1948 eröffnet - der ältesteFrankreichs. Hier kann man alle französischen und belgischen Comicskaufen. Gruselcomics, futuristische Comics, Kindercomics, politischeComics, Wirtschaftscomics, Erotikcomics. Doch nicht nur spezielleLäden verkaufen die Hefte, keine große französische Buchhandlungkommt ohne Comic-Abteilung aus. Zumindest in das deutsche Klischeeeines Comic-Fans passt Jean-Charles nicht. In das Bild einesSonderlings im T-Shirt mit dem Aufdruck japanischer Manga-Figuren,der Spielfiguren sammelt und sich weigert, erwachsen zu werden.

Wer in Frankreich Comics liebt, liebt die «neunte Kunst», eineKombination von grafischer und schriftstellerischer Kreativität.«Bandes dessinées», übersetzt etwa «gezeichnete Streifen», oder kurz«BD» werden die Bildergeschichten genannt. Mit «Komik» hat das imFranzösischen nichts zu tun. Weil beileibe nicht alles komisch ist,was Comic heißt.

Jean-Charles ist Lehrer an einem Gymnasium, verheiratet, 46 Jahrealt - nicht untypisch für einen französischen Comic-Liebhaber. Mitseinen grau melierten, kurzen Locken, beigefarbenen Leinenhosen,Sandalen und Poloshirt blättert er langsam, lächelnd, erinnernd inseinem «Kunstwerk». So wie jemand, der ein altes Fotoalbum in denHänden hält und sich erinnert, wie das damals alles gewesen ist. Undein bisschen so stimmt es auch. «Cabu» nennt sich der Autor desBuches. In Wirklichkeit heißt er Jean Cabut. Es sind die gesammeltenKarikaturen, die er in der französischen Satire-Wochenzeitung «LeCanard enchaîné» veröffentlicht hat.

Jean-Charles blättert, und die Zeichnungen erinnern ihn daran, wiedas damals alles so gewesen ist: Die Fehden von StaatspräsidentJacques Chirac mit seinem Premierminister Lionel Jospin Ende der 90erJahre, das burleske Bild vom kleinen François Mitterrand, derHändchen haltend und mit ängstlicher Miene den imposanten HünenHelmut Kohl fragt, ob die Preußen nicht auch kleine Kinder essenwürden.

Die bissigen politischen Comics haben Jean-Charles zum treuen Fandes «Canard enchaîné» gemacht. Auch in der Schule verwendet er dieKarikaturen als Unterrichtsmaterial. Er hat alle Bücher von Cabu,erzählt er stolz und beginnt, verschiedene Titel aufzuzählen. Cabuist einer der bekanntesten Zeichner Frankreichs, ein Mitglied der sogenannten «Génération Pilote». Eine Zeichnergeneration, die sich nachFrankreichs bekanntester Comiczeitschrift «Pilote» benennt.

Das ist eine Wochenzeitung, die es nur noch als Sonderausgabe fürwahre Fans zum Beispiel zu Weihnachten gibt und die Ausdruck desfranzösischen Comic-Booms seit den 60er Jahren war. 1959 gegründet,brachte sie französische Stars wie «Asterix und Obelix» und ihrenZeichner Albert Uderzo heraus. Und eben auch Cabu.

Sie war nicht die einzige Zeitung, «Hara-kiri» und «Charly Hebdo»sind weitere Beispiele. Comics sind in Frankreich nichtausschließlich eine Kinderdomäne, sondern bei Erwachsenen haben sieebenfalls einen hohen Beliebtheitsgrad und eine lange Tradition.Neben dem Erotik-Genre, das zum Beispiel die in den 60er Jahrenerstmals erschienenen «Barbarella»-Hefte berühmt machte, gilt das vorallem eben auch das Feld der Gesellschaftskritik.

Und diese Tradition wird geschätzt und gepflegt: Imwestfranzösischen Angoulême organisiert man jährlich Europas größtesComic-Festival. Es gibt hohe Auszeichnungen für die Zeichner. Seit1993 kann man sogar das Studienfach Comic-Zeichnen mit Diplomabschließen. Kritiker haben sich auf Comics spezialisiert undveröffentlichen ihre Rezensionen in Bildform etwa in der angesehenenZeitschrift «Les Cahiers de la BD».

Die Bücher gesellschaftskritischer Zeichner sind auf dem Marktbegehrt. Neben Klassikern wie Claire Bretéchers Serie «DieFrustrierten», eine Comic-Reihe über die Alltagsprobleme von 30-Jährigen, gibt es auch zahllose Neuerscheinungen, die sich charmantund witzig mit ernsten Themen auseinander setzen. So wurde etwa derBand «Persepolis» der in Paris lebenden Iranerin Marjane Satrapi aufder Frankfurter Buchmesse als Comic des Jahres 2004 geehrt. Ererzählt ihre Erinnerungen an die Islamischen Revolution.

Auch die Historie hat Eingang in die französische Comic-Weltgefunden. Der französisch-kambodschanische Autor Séra beispielsweisezeichnet in seinem Comic «Impasse et Rouge» die Geschichte einesKambodschaners im Krieg und die Schreckensherrschaft der Roten Khmernach.

Auch der letzte Kassenschlager, der sich in Frankreich schon450 000 Mal verkauft hat, beschäftigt sich mit einem komplexen Thema:«Die Katze des Rabbiners» des in Nizza geborenen Zeichners JoannSfar. Der Comic erzählt von einem Rabbiner und dessen Tochter Zlabyaaus der Perspektive einer sprechenden Katze. Eine intelligente Katze,die ihr Herrchen in unzählige kluge, witzige, philosophisch-theologische Debatten verwickelt. «Die Logik ist These, Antithese,Synthese. Die jüdische Lehre ist These, Antithese, Antithese,Antithese», sagt die Katze.

«Für Kinder ist das nichts, dafür hilft es Erwachsenen, sich aufetwas spielerische Art und Weise mit schwierigen Themen auseinanderzu setzen», erklärt Jean-Charles. Bei ihm stehen diese Comics zuHause schon im Regal. Erwachsene kaufen sie für sich. Genauso wie denRest von Sfars mehr als 90 Comic-Alben. «Die Katze des Rabbiners» istim «Album» momentan vergriffen. «Aber es ist bestellt», versichertein Angestellter mit Piercing in der Augenbraue. «Nächste Wochebekommen Sie es auf jeden Fall.»

«Französische Comics sind doch nicht trivial, sehe ich aus wiejemand, der Trivialliteratur liest? Und auch, wenn viele Sachenvielleicht vorrangig für Kinder sind, finden Sie "Asterix und Obelix"etwa unintelligent?» So fragt Jean-Charles entrüstet, während er zurKinderabteilung läuft und vor den Tischen stehen bleibt, auf denendie Hefte nach Verlagen aufgeteilt sind. Im Verlag Dupuis sind dasgefleckte Fantasietier «Marsupilami» und die Freunde «Spirou undFantasio» zu Hause, bei Dargaud der Cowboy «Lucky Luke», unter demSchild des Verlagshauses Casterman stehen «Tim und Struppi»-Hefte.

«Tintin» wird der Junge mit der Haartolle hier genannt. «Milou»heißt sein Hund. «Die französisch-belgischen Comic-Hefte sindKulturgüter», sagt Jean-Charles und wiegt das neueste «Titeuf»-Heftin seiner Hand, als handele es sich um eine historische Ausgrabung.«Titeuf», der Comic-Junge, der aus Kindersicht die Welt derErwachsenen erklärt. Der bislang letzte Band ging 2004 in Frankreichmit zwei Millionen Exemplaren an den Start.

Es sind Kulturgüter, die auch wirtschaftlich eine große Rollespielen. Während Comics für deutsche Verleger eher ein defizitäresGeschäft sind, steigt die Anzahl der Neuerscheinungen in Frankreichnach Zahlen des Comic-Journalistenverbandes «ACBD» (Association desJournalistes et Critiques de Bandes Dessinées) seit 2000 im Schnitt17 Prozent pro Jahr. Die jüngste Statistik zeigt: 2004 brachtenstattliche 207 Verlagshäuser Comics heraus. Ein Jahr zuvor waren eserst 185. 2120 Neuerscheinungen gab es in Frankreich im Jahr 2004.

Selbst die japanischen Mangas haben in Frankreich Erfolg. Figurenmit überdimensional großen Augen in Geschichten mit wenig Text. Siesind die meistgelesenen nicht-französischsprachigen Comics. Vor allembei Jugendlichen sind sie beliebt. Ein Genre, mit dem sich zumindestComic-Liebhaber Jean-Charles bisher nicht anfreunden kann. «SubtileIntelligenz und künstlerischer Stil» sucht er bei den Mangasvergeblich.

Die Verlagshäuser und Buchhandlungen aber haben sich angefreundet,denn Mangas sind ein Riesengeschäft - und eine Riesenkonkurrenz: IhrAnteil am Gesamtumsatz der in Frankreich gekauften Comics beträgtzwar bislang nur 22 Prozent, steigt aber jährlich an. Nicht zuletztdeshalb, weil die Manga-Hefte so schnell produziert werden. Währenddie Liebhaber der traditionellen Comics manchmal ein Jahr auf einenneuen Band warten müssen, vergehen in der Manga-Branche meist nur einpaar Wochen bis zur Fortsetzung. Außerdem sind sie billiger als dieHardcover-Hefte der französischen BDs.

Auch «Album» hat gleich gegenüber eine weitere Filiale, in der manneben amerikanischen Comics auch viele Mangas kaufen kann. Manchmal,so Jean-Charles, gehe auch er dort mal hinein, um zu sehen, was esNeues aus anderen Ländern auf dem Markt gibt. Wenn er etwasInteressantes im Schaufenster sieht, wird er auch jetzt vielleichtnoch kurz reinschauen. Jean-Charles nimmt noch eine «Schlumpf»-Figurfür seinen Sohn mit.

Ein etwa 14-jähriger Junge verlässt den Comic-Laden «Album» miteiner Tüte in der Hand. Er trägt weite Jeans und ein blaues T-Shirtmit dem Symbol von «Superman» auf der Brust. «Ich mache eineSprachreise nach England», erzählt er. Nächste Woche wird erlosfahren zu seinen englischen Gasteltern und ihren Kindern. «ImReiseprospekt habe ich gelesen, dass man der Familie als Gastgeschenketwas aus der eigenen Kultur mitbringen sollte.» Eine Flasche gutenWein hat er schon gestern besorgt. Und heute im Comic-Laden hat erden Rest des Gastgeschenks gekauft. Es ist ein «Asterix und Obelix»-Heft in englischer Übersetzung.