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Literatur Literatur: Der Grenz-Gänger Landolf Scherzer wird 65 Jahre alt

Von Antje Lauschner 12.04.2006, 08:15
Das undatierte Foto von Anfang April 2001 zeigt den Thüringer Schriftsteller Landolf Scherzer im thüringischen Dietzhausen. (Foto: dpa)
Das undatierte Foto von Anfang April 2001 zeigt den Thüringer Schriftsteller Landolf Scherzer im thüringischen Dietzhausen. (Foto: dpa) dpa-Zentralbild

Suhl/dpa. - «Ich wollte wissen, wie denkendie Leute rechts oder links der Grenze 15 Jahre nach der Einheit»,sagt Scherzer zu seinem im September zu den Bundestagswahlenerschienenem Reportageband «Der Grenz-Gänger». An diesem Freitag (14.April) wird der in Dietzhausen bei Suhl lebende Meister derliterarischen Reportage 65 Jahre alt.

Als Grenz-Gänger hat der sich in Dresden geborene Scherzer schonimmer versucht. 1967 wurde er einen Monat vor Ende seines Studiumsder Journalistik in Leipzig exmatrikuliert, weil er mit KlausSchlesinger und Jean Villain kritische Reportagen für die Zeitschrift«NBI» schrieb. Zur «Bewährung» kam er in einen der abgelegenstenZipfel der DDR jenseits des Thüringer Waldes.

«Mir ist daran gelegen, die Dinge selbst zu erkunden», blickt derMittsechziger auf seine Arbeit zurück. Im Kleinen das typisch Großewiderzuspiegeln, gehörte stets zu seinem Credo. Er beobachtete dasLeben zumeist der einfachen Leute vor und nach der Wende: Die Kali-Kumpel in Bischofferode nach ihrem Hungerstreik ebenso wie denversteckten und offenen Rassismus gegen ehemalige Gastarbeiter in derDDR. «Fänger und Gefangene», eine schonungslose Beschreibung desFischfangs in der DDR-Fangflotte vor Labrador, fasziniert bis heute.

Für Aufsehen sorgte in der Zeit von Glasnost und Perestroika überdie DDR hinaus sein Buch «Der Erste». Vier Wochen lang begleiteteScherzer den 1. SED-Kreissekretär von Bad Salzungen bei seiner Arbeitund lieferte bis dahin unbekannte offene und ungeschminkte Einblickein den Parteiapparat der DDR-Mächtigen. Er zeigte auch die Ohnmachtder «Kreisfürsten», wirklich entscheiden zu können. Acht Jahre späterrecherchierte Scherzer bei seinem «Nachfolger», dem CDU-Landrat. In«Der Zweite» beschrieb er den Niedergang der Industrie im westlichenThüringer Wald, die Ängste der Menschen und wiederum die - oftvergeblichen Versuche der Politik - diese Umwälzungen abzumildern.

Nach Arbeiten wie «Der Letzte» - eine Innenansicht über denLandtag - rückte der Autor mit dem «Grenz-Gänger» ins nationaleRampenlicht. Seine Reportage über Orte und Menschen an der ehemaligenGrenze scheidet jedoch Geister: Für die einen ist sie ein sachlicherReisebericht, der die Meinung der Leute von hüben und drüben zuProblemen und Freuden der Wiedervereinigung widergibt, für dieanderen ist sie er die Fortsetzung bloßer DDR-Propaganda.

Thüringens Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, HildigundNeubert, warf Scherzer vor, nicht objektiv zu sein, «abgestandeneVorurteile» zu pflegen und bei Zitaten das hineinzulegen, was in seinWeltbild passe. Andere monieren verfälschte und irreführende Zitate.Scherzer konterte und bezeichnete Neubert in einem MDR-Beitrag als«neue Ideologiefunktionärin», die einer «Art Ideologiekommission»vorstehe. Dies erinnere ihn an Vorwürfen, wie er sie aus seinerStasi-Akte kenne, als gegen ihn wegen Staatshetze ermittelt wordensei. Sein SED-Parteibuch hatte Scherzer erst hingeschmissen als ervon den ungeheuren Finanztransfers der Partei erfahren hatte. DenIdealen des Kommunismus hat er deshalb nicht abgeschworen.

Seit der letzten Kommunalwahl sitzt Scherzer, der kürzlich erneutzum Vorsitzenden des Thüringer Verbandes deutscher Schriftstellergewählt wurde, für eine Bürgergruppe als Suhler Stadtrat - und siehtdie Sache mittlerweile desillusioniert. Als ehemaliger DDR-Schriftsteller hatte er irgendwie immer noch im Hinterkopf, mithelfenzu können, die Welt zu verändern, meint er. Kommunalpolitik werdejedoch von so vielen dogmatischen Verwaltungsvorschriften undMachtinteressen einzelner bestimmt, das Veränderungen nur auf winzigeDetails beschränkt seien. «Meine hoffnungserfüllte Blauäugigkeit istda zumindest einem gesunden Realismus gewichen.»