Leonie Swann Leonie Swann: Mit den Augen der Schafe
Halle/MZ. - Mag sein, dass Leonie Swann irgendwann keine Schafe mehr sehen kann. Keine aus Seife, keine aus Plüsch und erst recht keine aus Fleisch und Blut. Derzeit allerdings verdankt die Krimiautorin den wolligen Tieren einen der vorderen Plätze auf den deutschen Bestsellerlisten. Und so akzeptiert sie durchaus die beiden Schäfchen - inspirierende Geschenke ihres Verlages -, die in ihrer Berliner Wohnung neben dem Computer stehen. "Man muss nur sehen, dass die Schafspräsenz nicht irgendwann überhand nimmt", sagt sie.
Diese Gefahr ist durchaus gegeben. Gerade ist mit "Garou" Swanns zweiter Schafs-Krimi auf den Markt gekommen, und wie schon hat sich der Vorgängerband "Glennkill" innerhalb kürzester Zeit zum literarischen Shooting Star entwickelt. Die Protagonisten sind die gleichen geblieben, was Swann-Fans durchaus erfreuen dürfte: Miss Maple, "das klügste Schaf der Welt", dessen Namen nicht von ungefähr an Agatha Christies schrullige Hobbydetektivin Miss Marple erinnert. Mopple the Whale, ein kugelrunder, nimmersatte Allesfresser, vor dem weder Vorhänge noch Kleidungsstücke sicher sind. Der verkalkte Ritchfield, ein ehemaliger Leitwidder, und Maude, das Schaf mit der "besten Nase der Herde".
Gemeinsam erlebt besagte Herde im Winterquartier in Frankreich eine Reihe schauriger Abenteuer. Ein Garou, ein Werwolf, so tuschelt man im Dorf, gehe nachts um im nahen Wald. Er reiße Rehe, und selbst die Zweibeiner seien nicht sicher vor dem Zugriff der mörderischen Bestie. "Für Schafe ist ein Werwolf eine durchaus interessante Problematik", erklärt Swann die Wahl des finsteren Sujets. Natürlich gelingt es der cleveren Miss Maple und ihren Gefährten, das Geheimnis um den angeblichen Garou zu lüften und ganz nebenbei noch einige weitere Verbrechen aufzudecken.
Wie schon "Glennkill" schildert Swann das Geschehen konsequent aus der Perspektive der Schafe, was, wie die Autorin zugibt, eine schreiberische Herausforderung gewesen sei. "Manchmal ging es ganz gut, dann wieder hatte ich das Gefühl, dass man eigentlich viel mehr aus der Situation herausholen könnte", sagt sie und schiebt gekonnt ihr Markenzeichen, eine einzelne lange Schläfenlocke, zur Seite. Doch der Perspektivwechsel vom Zwei- zum Vierbeiner berge auch viele erzählerische Reize. "Man betrachtet die Dinge anders, wenn man nicht in vorgegebenen Strukturen denkt. Sie verlieren dadurch ihre Selbstverständlichkeit und bekommen auf einmal etwas ganz Neues und Geheimnisvolles."
Humorvoll spielt Swann mit sprachlichen wie intellektuellen Missverständnissen und lässt ihre vierbeinigen Handlungsträger zu manch überraschend klarsichtigen Erkenntnissen kommen. Vor allem Miss Maple macht ihrem Namen alle Ehre und philosophiert so klug und herzensweise über die Untiefen der menschlichen Psyche, dass man ihr ohne weiteres allen Seelenkummer anvertrauen möchte.
Ihre Liebe zu Schafen habe ihre Wurzeln in einem einige Jahre zurückliegenden Irlandurlaub, erzählt Swann. Zusammen mit einer Freundin fuhr sie, damals noch Studentin der Englischen Literaturwissenschaft, ein paar Wochen mit einem Mietwagen durch Irland und "sah bald überall nur noch Schafe": kleine, große, dicke, dünne, dumme, kluge. Irgendwann, erinnert sie sich, seien ihr die individuellen Unterschiede der Tiere bewusst geworden. Wieder zu Hause in Berlin, begann sie spontan, "eine kleine Schafsgeschichte zu schreiben". Aus der "kleinen Geschichte" wurde schließlich ein mehr als 400 Seiten umfassender Roman, aus dem Roman ein internationaler Bestseller, der inzwischen in 25 Ländern erschienen ist.
Swann, damals Ende 20, unterbrach für den Ausflug in die Trivialität eines Kriminalromans ihre Doktorarbeit. Das Thema: die Rolle von Tieren in der Literatur. Mag sein, dass die theoretische Beschäftigung mit dem Sujet die Autorin zur praktischen Umsetzung animierte. Swann will das nicht ausschließen. "Ich finde es interessanter, selber zu erzählen als zu analysieren, was andere geschrieben haben", sagt sie.
So wurde besagte Doktorarbeit denn auch niemals beendet; eine zweite über das analytische Erzählen des Henry James liegt derzeit auf Eis. Die Fertigstellung von "Garou" hatte in den letzten Monaten Vorrang. Der Universitätsbetrieb liege ihr halt nicht so, sagt Swann. "So gesehen haben mich die Schafe gerettet."
Schon vor der Veröffentlichung von "Glennkill" hatte sie "vage im Blick", eine Fortsetzung der Erfolgsstory zu schreiben. "Mir waren beim Schreiben so viele Ideen gekommen, die keinen Platz im ersten Buch gefunden hatten, die ich aber interessant genug fand, um ihnen weiter nachzugehen." Hinzu kam die Lust, "noch einmal auszuprobieren, was man aus der Schafsperspektive alles herausholen kann". Swann weiß durchaus um die Risiken eines solchen Fortsetzungsbandes. "Man darf sich nicht wiederholen, will gleichzeitig aber seine Tradition weiterführen und darf die Leser nicht enttäuschen."
Das Experiment ist zweifellos gelungen. "Garou" schließt nahtlos an den Vorgängerband an, ohne sich in der bloßen Wiederaufnahme alter Scherze zu verlieren. Die Charaktere haben sich weiterentwickelt; die Handlung orientiert sich an dem Muster eines Mysterie-Thrillers und nimmt das Genre gekonnt auf die Schippe. Ob sie einen dritten Schafskrimi schreiben wird? Leonie Swann zögert und streicht ein letztes Mal ihre Haarlocke zurück, die ein ganz klein wenig an ein Schäfchen erinnert. Man soll nichts ausschließen. Erst recht nicht, wenn man "noch einige Ideen im Kopf hat".