Leipziger Buchmesse Leipziger Buchmesse: Ein Streifzug durch Regionale Verlage

halle/MZ - Offenbar ist Gustaf Nagel im Frühjahr 1901 auf Tournee. Anders lässt sich diese Zurschaustellung nicht erklären. Der Naturapostel mit freiem Oberkörper und mehr als schulterlangem Haar, die angezogenen Kniee unter einem Leinentuch: So sitzt der altmärkische Wanderprediger im Stroh des Pferdestalls des Merseburger Gasthauses „Zur grünen Linde“.
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Das Foto ist ein kleines Kunstwerk, das den Kult um den zu diesem Zeitpunkt 26-jährigen Vegetarier und Naturheiler sinnfällig macht. Ein Mann, der ein Jahr zuvor entmündigt worden war. Nun zieht der gelernte Kaufmann durch die Welt, die ihn als Kuriosum wahrnimmt - und ausstellt. Im Merseburger Stall ist eine Schiefertafel zu sehen, die den Namen des malerisch Platzierten wie ein Etikett vorführt. Rechts davon hängt eine schmale Fahne herab, die mutmaßlich der Wanderer mit sich führt: „ich komme zu euch in Frieden, Gustaf Nagel“. Bleibt nur die eine Frage: Wer ist der Herr links im Bild, der einen Teller - offenbar mit Gemüse - ins Bild hält? Vielleicht der Gastwirt, der Nagel beköstigt und bei dieser Gelegenheit zeigen kann, was bei ihm so los ist. Ein Prominenter im Pferdestall!
Aufgenommen wurde die Szene von dem Merseburger Fotografen Maximilian Herrfurth (1863-1933), der gemeinsam mit seinem Vater Franz um 1900 das Leben in der uralten Domstadt an der Saale in vielfältigsten Aspekten dokumentierte. Insgesamt 388 Glasnegative und von diesen 193 originale Abzüge besitzt das Museum Merseburg, im Stadtarchiv liegt noch einmal ein Konvolut an Aufnahmen.
Vergessene Orte
Aus diesen wurde ein von Joachim Riebel eingeleiteter Bildband zusammengestellt, der jetzt im Verlag Janos Stekovics erschienen ist (Die Merseburger Fotografenfamilie Herrfurth, Stekovics, 240 Seiten, 19,90 Euro). Ein Buch, das weit über Merseburg hinaus von Interesse ist: So sprechend in kultur-, bau- und zeithistorischer Hinsicht sind die Fotografien. Die Stadt und ihr Alltag, die Menschen und ihre Tätigkeiten: Man sieht die Stadt ein letztes Mal wie eingesponnen in ihre Vergangenheit. Tatsächlich steht der Ort an der Schwelle zur Moderne, die im Zuge des Zweiten Weltkrieg nur wenige der alten Steine übereinander lassen wird. Auch deshalb ist der im Vorsatz beigegebene Stadtplan von 1905 nützlich.
Mit dem Herrfurth-Titel reist der Stekovics Verlag zur Buchmesse, die am kommenden Donnerstag in Leipzig ihre Tore öffnet. Nicht die einzige Neuerscheinung, die das im Saalekreis angesiedelte Unternehmen zum Frühjahr bietet: als Bildtextbände in prächtiger Stekovics-Manier sind „Burgendlandkreis“ (400 Seiten, 725 farbige Abbildungen) und „Das vorzüglichste Cabinett“ über die Meckelsche Sammlung in Halle zu haben. Mit „Anhalt“ liegt ein neuer Kulturreiseführer vor, Schloss Neuenburg ist ein Band der Stiftung Dome und Schlösser gewidmet, „Karl IV. Ein Kaiser an Elbe und Havel“ ist Thema eines KulturReisen-Buches.
Mit zeitgenössischer Fotografie reist der Mitteldeutsche Verlag nach Leipzig: Bildbände werden angeboten von Maix Mayer (Die vergessenen Orte der Arbeit), Robert Paris (Entschwundene Stadt. Berlin 1980-1989), Ron Jagers (Berlin-Prenzlauer Berg 1979-1989), Günter Blutke (Erfurt 1953-1959, Leipzig 1956-1959, Marc Mielzarjewicz (Lost Places. Harz) und - herausgegeben von Uwe Jacobshagen und Rolf Kuhn - „Liebe Lausitz. Elf Fotografen zu Gast“. Für Leser und Betrachter gleichermaßen hat der hallesche Verlag Wolfgang Seilkopfs Graf Luckner-„Biografie in Bildern“ und das Buch „Der Wunderfelsen von Wörlitz. Faszination Vesuv im 18. Jahrhundert“ im Gepäck. Lyrik bieten Ralf Meyer und Werner Makowski unter dem Titel „Sonette für Brombeeren“ an. Der vormalige stellvertretende Leiter des Dessauer Staatsschutzes, Swen Ennullat, hat einen Verschwörungsthriller um einen Geheimbund im Dritten Reich geschrieben: „Alpendohle“.
Reichtum der Provinz
Ganz auf regionale Kulturgeschichte setzt der hallesche Hasen Verlag. Die Schriftenreihe „Reichtum der Provinz. Städte in Mitteldeutschland“ setzen Eva Scherf mit „Hettstedt“ und Katrin Bohley mit „Mansfeld“ fort. Thomas Jeschner veröffentlicht „Das Kinobuch. Lichtspielhäuser in Halle“ in der Edition der Mitteldeutschen Kulturhistorischen Hefte. In dieser Reihe erscheint auch das von Mathias Homagk verfasste Lebensbild des großen halleschen Stadtbaurates Wilhelm Jost (1874-1944) unter dem Titel „Gebaut habe ich genug“.
Der hallesche Projekte Verlag sieht es auf die Wagner-Liebhaber ab. In zwölf Bänden präsentiert das Haus alle Texte des Komponisten, der in eigener Sache auch ein Schriftsteller war. Der Blockbuster zum Wagner-Jahr, herausgegeben von Rüdiger Jacobs. Wer es handlicher mag, wird bei der Edition Cornelius gut bedient: mit der in literarischer und bildnerischer Hinsicht reizvollen Prosasammlung „Beider Seits offen & Zwangs verpflichtet“ von Manfred Jendryschik, illustriert mit Holzschnitten von Karl-Georg Hirsch, mit einer Neuausgabe von Gerhard Wolfs 1972 erstveröffentlichter Erzählung „Der arme Hölderlin“ und mit Bernd Wagners „Den Berliner Blinden“ gewidmeten Gedichten und Epigrammen.
Einem Büchermenschen sonderbarster Art widmet sich der in Bitterfeld lebende Schriftsteller Klaus Seehafer: dem Pfarrer Johann Georg Tinius (1764-1846), der für das gebundene gedruckte Wort im mitteldeutschen Raum raubte und tötete. „Magister Tinius. Lebensbild eines Verbrechers aus Büchergier“ heißt der große erzählende Essay, der im Verlag André Thiele erschienen ist. Kaum auszudenken, wie Tinius einen Gang über die Leipziger Buchmesse gestaltet hätte.