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Kurt Tucholsky Kurt Tucholsky: Er ging leise aus dem Leben fort

Von CHRISTIAN EGER 20.12.2010, 18:34

Halle (Saale)/MZ. - Er nennt sie "liebe" oder "kühle Blonde", sie ihn "Daddy" oder "Dickerchen". Tatsächlich ist Kurt Tucholsky etwas rund um die Hüften, ein großer Mann ist der Journalist im Militärrock schon gar nicht - aber ein sehr entschlossener in den Fragen der Liebe, aber nicht des Lebens. Am 16. Januar 1918 schreibt der 28-jährige Unteroffizier Kurt Tucholsky an Mary Gerold, 19, Sekretärin des deutschen Heeres in Riga: "Es ist eine Frage der Zeit, wann zwischen Menschen, die sich schätzen - Freunde, Geliebte, Liebende - wann zwischen ihnen der Schleier fällt."

Denn man habe doch keine Wahl, auch wenn "man Angst hat" oder "nicht weiß, was auf dem anderen Ufer blüht". Man dürfe "dem Mond nicht böse sein; daß er scheint. Das ist - gewissermaßen - sein Beruf. Und hat eine Frau nicht auch einen - Beruf?" Was wohl meint: Hat Mary nicht den Beruf, Tucholsky zu folgen? Der Sonne, die den Mond erst erleuchtet?

Am 25. Februar dann wird "Dickerchen" deutlicher: "Das Eigentliche für den Großstadtmenschen, das ist", doziert er in einem Brief an Mary, "dieses Sichverfressen in eine Frau, dieser Drang, ganz in sie hineinzukriechen, sie ganz zu haben (also viel mehr als nur ihren Körper), ganz, ganz, ganz auszukosten, was die Stunde bietet und der Tag und auch die Nacht." Einer Frau zu folgen und zu wissen: "ich höre ihr Herz klopfen und weiß: es ist meins, das da schlägt."

Die Szene ist die Fliegerschule Alt-Autz bei Riga im Kurland gegen Ende des Ersten Weltkrieges. Der Ort: die Kassenverwaltung, in der Mary arbeitet, Tochter eines baltischen Buchhalters, und die Bücherei, die Tucholsky führt. Mary schreibt Tagebuch: noch mit spitzer Distanz gegenüber "Daddy" im November 1917, schon im Januar übergelaufen zu ihm: "Es ist sonderbar. Alle diese Tage war es so: Wenn ich an ihn denke, bin ich wie im Taumel, alles in mir zittert und sehnt sich nach ihm..." Das Zittern wird sich legen, der Taumel nie.

Ein Drama nimmt an Fahrt auf, das für Tucholsky tödlich, für Mary Gerold tödlich traurig endete. Vier Jahre soll die Sekretärin von 1924 an mit dem linksliberalen Starfeuilletonisten verheiratet sein. Vier Jahre nur, denn: "Es war zu groß und zu schön als es anfing, um es hässlich enden zu lassen."

Tucholsky lebte stets mit mindestens drei Frauen gleichzeitig, die nichts voneinander wussten. "Kurt Tucholsky war Zeit seines Lebens von schier verblüffender sexueller Unersättlichkeit", schreibt Fritz J. Raddatz, 79, der Feuilletonist und Nestor der Tucholsky-Forschung in Deutschland. "Statt des hoch sich wölbenden Horizonts der Erotik verplempert er sich in die raschen Abenteuer der Sexualität." Dieser Raddatz-Satz ist eine Variation von Tucholskys letztem Gruß an Mary: "Hat einen Goldklumpen in der Hand gehabt und sich nach Rechenpfennigen gebückt."

Unter dem Titel "Tucholsky. Eine biografische Momentaufnahme" hat Raddatz ein Büchlein über die wichtigste Liebe des deutsch-jüdischen Schriftstellers verfasst, von dem Erich Kästner sagte, dieser sei "ein kleiner dicker Berliner, der mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollte". An dem Büchlein ist dreierlei erstaunlich: Inhalt, Verlag, Titel. Bereits im Frühjahr war ein sehr gut geschriebenes Buch von Klaus Bellin über Mary und Kurt Tucholsky erschienen (Es war wie Glas zwischen uns); der Herder-Verlag ist ein protestantisches Haus, in das man Tucholsky nicht sofort einweisen würde; schließlich der irreführende biografische Titel. Es verblüfft, dass das eigentlich Sensationelle dieses Buches nicht hervorgehoben wird: Über 50 Seiten wird aus Marys Tagebüchern zitiert, die bis heute noch nicht veröffentlicht sind; die Autorin starb 1987.

Nun könnte man einwenden, dass die privaten Nöte Tucholskys Diskretion verdienten, dass dieser Schriftsteller kein Kachelmann sei: Aber das Literarische ist vom Privaten nicht zu trennen. Wer den so vielfach in seinen Schriften und Selbstzeugnissen kunstvoll verspiegelten Tucholsky begreifen will, muss seine persönliche Geschichte kennen. Raddatz schreibt über Tucholskys Briefe, diese seien "große menschliche Dokumente, man liest sie wie ein gigantisches Liebesgedicht". Sie sind aber auch großes Kunstgewerbe. Oder wie die Journalistin Lisa Matthias (1894-1982), eine der letzten und am meisten selbstbewussten Geliebten in ihrem zu Unrecht nicht mehr lieferbaren Erinnerungsbuch "Ich war Tucholskys Lottchen" schrieb: Seine Briefe waren vor allem "unpersönlich, unverbindlich, heiter".

Das sind die Temperaturen des Schriftstellers, zu dessen Porträt Raddatz wertvolle Partien und Reflexionen liefert. "Mit derselben Energie, mit der Er unglücklich ist, könnte Er glücklich sein", schreibt Mary Tucholsky über den immer wieder verblüffend klarsichtigen, die Weltdinge ein Stück kenntlicher machenden Künstler - der weise war, aber nicht lebensklug.

Vor 75 Jahren starb er im Sahlgrenschen Krankenhaus im schwedischen Goeteborg 45-jährig an einer Überdosis Schlaftabletten. War es Selbstmord? Man weiß es nicht. Lebensunlust? Sicher. Im "Sudelbuch" notierte der "aufgehörte Schriftsteller" zum Ende: "Er ging leise aus dem Leben fort, wie einer, der eine langweilige Filmvorführung verlässt, vorsichtig, um die die anderen nicht zu stören." Wer da am Ende ging, das zeigt das Tucholsky-Büchlein von Raddatz.

Fritz J. Raddatz: Tucholsky. Herder Verlag, Paperback, 144 Seiten, 12,95 Euro