Kulturpolitik Kulturpolitik: Europas Mitte, tief im Osten

Görlitz/MZ. - Görlitz ist die Stadt, die man immer schon mal besucht haben wollte. Nur hat es dann irgendwie nie geklappt. Hundert Kilometer sind es von Dresden noch, ein schlappes Stündchen mit dem Auto - man muss es nur wollen! Wer sich aufrafft, wird mit Schönheit belohnt werden - und einer europäischen Perspektive, die man greifen kann: Einfach die Altstadt queren, zur Neiße hinab und über die neu gebaute Brücke nach Zgorzelec "rübergemacht", in die polnische Schwesterstadt.
Das klingt nach Arkadien, aber das ist es natürlich nicht. Dafür gibt es zu wenige Millionäre in Görlitz, scherzt Gerhard Müller vom Kulturstadtbüro mit einem leisen Seufzer. Überhaupt: Es könnte Görlitz wohl ein paar Einwohner mehr in seinen liebevoll sanierten Häusern vertragen. Und an Arbeit fehlt es, wie überall, auch. Der Siemens-Konzern und die kanadischen Waggonbauer von Bombardier (in Halle-Ammendorf wird man sich erinnern) sind zwar vor Ort (und tragen auch die Kulturstadtbewerbung mit), die Arbeitslosigkeit liegt trotzdem bei offiziell 24 Prozent - beidseits des Grenzflusses.
Es ist nicht die einzige Gemeinsamkeit der beiden Städte, die bis zum Kriegsende zusammengehörten. Vorbehalte gab und gibt es hier wie da, "man hat jahrzehntelang mehr mit dem Rücken zueinander gelebt", sagt Gerhard Müller. Dass Deutsche die Polen für Autodiebe halten und Polen glauben, dass die Deutsche sie für Autodiebe halten, bleibt, so lange sich das Klischee am Leben hält, ärgerlich. Die Lage in Görlitz und Zgorzelec ist aber komplizierter - wie immer, wenn ein Gemenge aus historischen und psychologischen Wirkungen entsteht. Die Menschen haben noch immer damit zu tun, in ihrer neuen Heimat anzukommen. Vertriebene siedeln hier, Deutsche aus Schlesien, Polen aus der Ukraine.
Diese Laborsituation gehört in den Blick, will man die Bewerbung von Görlitz und Zgorzelec um die Ehre, Europas Kulturhauptstadt zu sein, gebührend würdigen. Ein Brückenpark entlang der Neiße soll entstehen, die Via regia, eine historische Handelsstraße, die von Spanien über Schlesien bis nach Kiew führte, in Erinnerung gerufen werden.
Gleichwohl wird den Fremden zuerst das alte Görlitz mit dem Charme seiner historischen Bauten aus Renaissance, Barock und Jugendstil für sich einnehmen. Prachtvoll künden sie von Reichtum, Macht und Selbstbewusstsein der Stadt aus Tagen des spätmittelalterlichen Sechsstädtebundes, zu dem neben der Tuchmacherstadt Görlitz auch Bautzen, Kamenz, Lauban, Löbau und Zittau gehörten.
Die schönste Stadt Deutschlands wird Görlitz genannt - mit einigem Recht. Vielleicht bewirken es zusätzlich die gerade noch erkennbaren Wunden, dass man so rasch eine solche Nähe zu dieser Stadt empfindet. Das Hotel "Monopol" ist schon ein Bauplatz, in der Gaststätte "Kreuz Bube" gegenüber wird am hellen Tag "Spiel, Spaß, Unterhaltung" offeriert. Im "Theater-Café" ist nun ein Asia-Imbiss heimisch, und einen Laden mit Gewehren, gefährlich aussehenden Messern und Klamotten einer bekannten Marke, die nichts mit den Neonazis zu tun haben will, die sie gern tragen, gibt es in bester Lage.
Es mag ja ein Zufall sein, dass der Schuhmacher und Philosoph Jakob Böhme (1575-1624) sich ausgerechnet in Görlitz niederließ. Über die Einheit, die gegenseitige Bedingtheit des Gegensätzlichen hat er nachgedacht und Nachfahren wie Hegel damit inspiriert. Sieht man Görlitz und Zgorzelec an, mag man an diesen Zufall nicht mehr so recht glauben. So liegt Böhme in Frieden auf dem Nikolai-Kirchhof seiner Stadt, indes an der Uferstraße zwei Häuser seine These köstlich illustrieren: Hier die Ruine des VEB Kondensatorenwerk, nur die Leuchtreklame scheint noch leidlich intakt. Gegenüber ein Gehöft, das einem Kunstverein Obdach gewährt: "Entschleunigung" hat er sich programmatisch genannt. Bei aller Eile, die Görlitz hat - die Botschaft passt zu Zeit und Ort. Europas Mitte, tief im Osten.