Kulturinsel Kulturinsel: Die Kreuzwege zwischen den Lebenden und den Toten
HALLE/MZ/AHI. - Er hat sie selbst in Gang gesetzt, hat einer jungen Frau die Lüge ihres Lebens vor Augen geführt und sie auf die Suche nach einer bitteren Wahrheit geschickt. Dabei ist er zu einem Betrüger geworden, der sich an fremdem Schicksal bereichern und eine wirkliche Tragödie in Kunst übersetzen will.
Christian Schwochows Film "Novemberkind", dessen Drehbuch der junge Regisseur gemeinsam mit seiner Mutter Heide verfasst hat, war eine der großen Kino-Überraschungen des vergangenen Jahres. Dass deutsche Bühnen inzwischen fast reflexhaft nach solchen Vorlagen greifen, um von deren Popularität zu profitieren, weiß man - und auch, dass sie sich damit der Gefahr aussetzen, an einem übergroßen Vorbild gemessen zu werden. In der Werft der halleschen Kulturinsel geht nun die junge Regisseurin Tanja Richter daran, das Road Movie zwischen Malchow und Konstanz auf engstem Raum zu entwickeln.
Ausstatterin Mira Voigt hat den Bühnenraum dafür mit Accessoires der Reise - blaue Koffer vor einer Wand von Schließfächern - bestückt. Das könnte der weite Himmel sein, aber es bleibt letztlich nur ein enger Horizont.
Dabei versucht die Uraufführung vieles, um die Geschichte der jungen Bibliothekarin Inga und des alternden Schriftstellers Robert von der Leinwand auf die Bühne zu holen. Da singt der Jazzchor Halle zunächst von "Ain't Misbehavin'", um später durch melancholischen Konserven-Sound verdrängt zu werden. Da gibt es Short Cuts, die lakonische Momente pathetisch aufladen, da überschneiden sich Zeitebenen und begegnen einzelne Figuren ihrem jüngeren Ich. Der Kino-Clou aber - die Doppelrolle von Anna Maria Mühe, die Mutter Anne und Tochter Inga spielt - lässt sich nicht auf das Theater übertragen. Und daher fehlt jene Ebene, die dem Film seine Höhe gibt.
Denn nur wenn das auf der Flucht aus der DDR zurückgelassene Kind wie die Wiedergängerin jener Frau wirkt, die ihr Verlust in Wahn und Suizid getrieben hat, kann sie den dabei schuldig gewordenen Männern als direkte Anklage erscheinen. Die Inszenierung aber verkehrt diesen Ansatz in sein Gegenteil, wenn etwa der Russe Juri oder der Psychiater unverändert durch die Jahre laufen.
Auch die kostümierten Kalauer, zu denen der Volkspolizist und der entflohene Rotgardist aus der Vergangenheit sowie die mannstolle Kellnerin und der schnoddrige Lektor in der Gegenwart zählen, tragen wenig zur Erkenntnis-Findung bei. Immerhin setzen vor allem Elke Richter und Jörg Simonides sehenswerte darstellerische Akzente, auch Lena Zipp, Alexander Pensel und Peter Weiß stellen sich in den Dienst der Geschichte.
Dass Peer-Uwe Teska aber nie den Mittelweg zwischen dem Antreiber und dem Getriebenen verlässt, dass er die Hybris wie die Gefahren seines Spiels bestenfalls zu ahnen scheint, nimmt schließlich auch Sophie Lüpfert einen wichtigen Widerpart. Erst im Finale, wenn sich das Theater auf seine eigenen Möglichkeiten besinnt und die stumme Begegnung der Lebenden und der Toten arrangiert, wird die ganze Tragik dieser Inga deutlich: Sie hat ihre Mutter ein zweites Mal verloren - und zugleich all jene entlarvt, die ihr den Ersatz für diese nächste Verwandte boten.
Dass die Kunst dabei aber als Parasit des Lebens gewirkt hat - das bleibt eine bedenkliche Pointe.
Nächste Vorstellungen: 4. und 9. Dezember, jeweils 20 Uhr, Werft