Kulturgeschichte Kulturgeschichte: Renaissance der Renaissance

Halle (Saale)/MZ. - Es war ein denkwürdiges Jahr, in dem sich Rodrigo Borgia in den Papst Alexander VI. verwandelte: In Spanien hatten Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien das Alhambra-Edikt unterzeichnet, das die Vertreibung aller Juden festlegte, die sich der Taufe verweigerten. In Deutschland hatte Martin Behaim mit seinem „Erdapfel“ den ersten Globus vollendet, in Italien schuf Leonardo da Vinci den „Vitruvianischen Menschen“ als Muster der Proportion - und auf seiner Reise über den Atlantik sichtete Christoph Kolumbus im Oktober die Küste eines bis dato unbekannten Landes. In diesem Jahr 1492 also wurdeder Spanier Borgiazum Nachfolger des Papstes Innozenz VIII. gewählt - und damit der Aufstieg seiner Familie besiegelt, an dem er zuvor als Vizekanzler des Vatikan ehrgeizig und zielstrebig gearbeitet hatte.Wenn man sich in der Alten wie der Neuen Welt nun zeitgleich und mit gigantischem medialen Aufwand an den machtbewussten Kirchenfürsten erinnert, dann kann diese Renaissance der Renaissance kaum Zufall sein: Am Mittwoch läuft im ZDF der zweite Teil der sechsteiligen europäischenm Serie „Borgia“, in der John Doman die Figur verkörpert. Ab 9. November ist auf ProSieben dann das amerikanische Pendant zu sehen, in dem Jeremy Irons die Hauptrolle übernommen hat.Wie aber lässt sich das gesteigerte Interesse für eine eigentlich ferne Zeit erklären? Was fasziniert die Gegenwart an den Menschen des späten 15. Jahrhunderts?
Zunächst ist die Geschichte der Borgias natürlich ein hoch dramatischer Stoff und bietet ein Paradebeispiel für den skrupellosen Umgang mit Macht: Der Clan-Chef Rodrigo erscheint nicht von ungefähr wie der Prototyp eines Mafia-Paten, selbst wenn sich einige seiner angeblichen Verbrechen offenbar auf Propagandalügen seiner Feinde zurückführen lassen. Dass er seine illegitimen Kinder Juan, Cesare und Lucrezia wie Schachfiguren verschob, ist aber ebenso verbürgt wie die Rücksichtslosigkeit in der Unterwerfung seiner Feinde. Weil er während seines Pontifikats bis zu 300 Verwandte an den Schaltstellen der Macht versammelt hatte, erinnert er auch an moderne Diktatoren wie Sadam Hussein oder Muammar al-Gaddafi, Idi Amin oder Husni Mubarak - allesamt Herrscher, die ihren Staat nach dem Grundsatz „Blut ist dicker als Wasser“ und ohne Rücksicht auf geltende Moral führten.
Mit dieser Parallele allein aber ist die Faszination für die Borgias nicht zu erklären. Eine weitere Ursache für den Hype, der am Montag immerhin 6,2 Millionen Fernsehzuschauer fesselte, liegt in der krisenhaften Umbruchszeit begründet, in der Rodrigo das Amt des höchsten katholischen Würdenträgers übernahm. Der Übergangzum 16. Jahrhundert brachte zahlreiche Wahrheiten ins Wanken, die bislang alsselbstverständlich galten: Die Entdeckung Amerikaserschütterte daseuropäischzentrierte Weltbild ebenso kurz darauf Vasco da Gamas Seereise nach Indien.Zudem hatte sich der wenige Jahrzehnte zuvor von Johannes Gutenberg entwickelte Buchdruck in rasanter Geschwindigkeit verbreitet und für eine Medienrevolution gesorgt, deren Ausläufer bis in die Gegenwart hinein zu spüren sind.
Dass solche epochalen Umbrüche auch die gesellschaftliche Ordnung stören und die zivilen Normen aushöhlen, kann der Mensch des 21. Jahrhunderts an sich selbst beobachten. Schließlich lebt auch er mit neuen Medien wie Facebook oder Youtube, mit den virtuellen Welten des Internet und mit einer rasanten Beschleunigung der Informationsflüsse - durchaus vergleichbar mit jenen Vorfahren, die aus dem Mittelalter in die frühe Neuzeit geschleudert wurden.
Die Borgias haben diesen Umbruch als Chance begriffen und schneller als Andere verkraftet: Während religiöse Eiferer wie der Florentiner Bußprediger Girolamo Savonarola allen weltlichen Besitz dem „Feuer der Eitelkeiten“ übergeben wollten, wofür ihn Alexander VI. 1498 hinrichten ließ, kompensierten sie den Verlust der Glaubensgewissheiten durch diesseitige Ausschweifungen. Im ZDF-Film ist zu sehen, wie vor allem Rodrigos Sohn Cesare zwischen Orgien der Gewalt und der Bußfertigkeit hin- und herschwankt - ein typischer Vertreter der Renaissance, der Niccolò Machiavelli später zu seinem berühmten Essay „Der Fürst“ inspirierte und von Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert als Beispiel für seinen „Übermenschen“ genannt wurde.
Tom Fontana, Drehbuchautor der Serie „Borgia“, hat sein Interesse an dieser Umbruchzeit so begründet: „Vernunft und Wissenschaft, Individualität und Kunst waren nicht länger eine Sünde, sondern wurden gefeiert . . . Die Welt war voller Möglichkeiten, bereit für eine unvergleichliche Zukunft. Das von Gott erschaffene Monster verwandelte sich in den aufgeklärten Menschen.“ Und die Biografien der Figuren summiert er knapp: „Die Borgia wollten alles: Ruhm, Glamour, aber auch Einklang - mit Gott, der Natur, Rom, mit allen anderen und vor allem: mit sich selbst.Die Borgia waren die erste moderne Familie.“
Das ist es also, was die Gegenwart an dieser Geschichte fasziniert: dasSpektakel als Spiegel, in dem sich das Eigene als fremdes Antlitz zeigt. Dass sich die Berliner Ausstellung „Gesichter der Renaissance“ pünktlich zum TV-Spektakel als Publikumsmagnet erweist, darf als weiterer Beleg für diese Begeisterung gelten. Und selbst das größte Jubiläum, das man in einigen Jahren in Mitteldeutschland feiern wird, lässt sich mit den Borgias verknüpfen: Denn als Martin Luther 1517 seine Thesen anschlug, protestierte er damit auch gegen die Sittenlosigkeit, die im Vatikan spätestens seit Alexanders Zeiten herrschte. Sein direkter Widersacher kommt im Film übrigens auch vor: Giovanni de’Medici, der später als Leo X. Papst wurde.
Der zweite Teil des ZDF-Sechsteilers läuft am Mittwoch um 20.15 Uhr.