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KulturgeschichteKulturgeschichte: Das Jahr ohne Sommer

Von ANDREAS HILLGER 15.08.2011, 17:34

Halle (Saale)/MZ. - Den Urlaubern und den Künstlern bei Open-Air-Veranstaltungen, den Biergartenbesitzern und den Landwirten mag ihr kollektives Unglück derzeit einmalig erscheinen, das erste "Jahr ohne Sommer" aber schlägt gegenwärtig nicht zu Buche. Tatsächlich wird dieser Titel in der Klima- und in der Kulturgeschichte gewöhnlich auf 1816 angewendet - ein Jahr, das im Englischen auch als "Eighteen hundred and frozen to death", im Deutschen schlicht "Achtzehnhundertunderfroren" genannt wurde. Zwar hatte es vergleichbare Anomalien auch schon vorher - vor allem im 16. und 17. Jahrhundert - gegeben. 1816 aber waren die Wirkungen der Kältewelle besonders verheerend - und auf literarischem Gebiet außerordentlich ertragreich.

Ein Vulkan in Indonesien

Begonnen hatte alles mit dem Ausbruch des Vulkans Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa, der bereits im April 1815 rund 150 Kubikkilometer Staub und Asche sowie rund 130 Megatonnen Schwefeldioxid in die Atmosphäre geschleudert hatte. Weil sich diese Verschmutzungen wie ein gigantischer Schleier auf die Atmosphäre legten, kühlte das Klima weltweit für vier Jahre ab. Die Folgen waren extrem: In den USA gab es im Folgejahr Nachtfrost-Perioden im Juli und August, im kanadischen Quebec fiel - wie auch in der Schweiz - mitten im Sommer Schnee. Und in Westeuropa kam es zu schweren Unwettern, die etliche Flüsse über ihre Ufer treten ließen. Das dauerhaft schlechte Wetter sorgte für katastrophale Missernten, nördlich der Alpen stieg der Getreidepreis auf das Zweieinhalb- bis Dreifache - und der russische Zar Alexander I., dessen Reich von den Auswirkungen verschont geblieben war, schickte 100 000 Rubel und Getreide in die besonders schwer betroffene Ostschweiz.

Da Europa zudem noch unter den Folgen der Napoleonischen Kriege zu leiden hatte, sorgte das "Jahr ohne Sommer" für eine Auswanderungswelle nach Amerika - ebenso, wie es zu Agrarreformen führte und den Chemiker Justus von Liebig später zur Entwicklung der Agrikulturchemie inspirierte. Selbst die Entwicklung der Draisine soll indirekt mit dem Hungersommer zusammenhängen - Karl Drais baute sein Laufrad 1817 als Reaktion auf das Pferdesterben in Folge des Futtermangels.

Ihre wichtigste kulturhistorische Wirkung aber entfaltete die Kälteperiode in der Villa Diodati am Genfer See. Hier hatte sich eine illustre Runde von überwiegend englischen Exilanten versammelt, um den Sommer gemeinsam zu verbringen. Der Gastgeber war kein Geringerer als George Gordon Noel Byron, der sich mit Werken wie seinem Versepos "Childe Harold's Pilgrimage" frühen Ruhm erworben hatte und nach einer Liaison mit seiner Halbschwester sowie der skandalumwitterten Trennung von seiner Ehefrau auf den Kontinent geflüchtet war. Unter seinen Gästen fand sich die erst 19-jährige Mary Godwin, die den wesentlich älteren Dichter Percy Bysshe Shelley begleitete - und deren Halbschwester Claire Clairmont, die sich wiederum in Byron verliebt hatte. Komplettiert wurde die Schar durch John William Polidori, den Leibarzt des Lords.

Da der Dauerregen die Sommerfrischler nicht ins Freie ließ, verbrachten sie ihre Zeit mit dem reichlichen Genuss der Opium-Tinktur Laudanum, mit philosophischen und spiritistischen Diskussionen - und mit dem Vorlesen von Gespenstergeschichten. Als ihnen der Lektüre-Vorrat ausging, regte Byron eine Art Dichterwettstreit an, aus dem zwei Außenseiter als Sieger hervorgingen. Zugleich wurden dabei zwei Figuren geboren, die inzwischen längst zum festen Fundus der Popkultur gehören - das künstliche Monster des Viktor Frankenstein und der Vampir, der später Modell für Bram Stokers Blutsauger Dracula stand.

Monster und Blutsauger

"Der moderne Prometheus", wie die Frankenstein-Geschichte im Untertitel heißt, stammte aus der Feder von Mary Wollstonecraft. Ihren theoretischen Anlass gaben die Experimente zur Elektrizität und zu ihrer Wirkung auf verstorbene Lebewesen, die damals en vogue waren - und die Versuche des Engländers Erasmus Darwin, der tote Materie zum Leben erwecken wollte. Erst wenn man die Entstehung des Romans kennt, den seine Autorin drei Jahre später zunächst anonym veröffentlichte, versteht man einige Details - etwa die Herkunft des Monsterbastlers Frankenstein aus Genf und die schicksalhafte Begegnung von Schöpfer und Geschöpf in den Alpen. Selbst die Tatsache, dass der Showdown der Geschichte in der Arktis spielt, mag dem Umstand geschuldet sein, dass mitten im Sommer der Kamin in Byrons Haus permanent beheizt werden musste.

Die zweite Geschichte, die sich dem Wettstreit verdankt, ist Polidoris "Der Vampyr", die 1819 unter Byrons Namen veröffentlicht wurde. Diese Gothic Novel begründete ein Genre, in dem sich später Stars wie Edgar Allan Poe, Alexandre Dumas und Alexej Tolstoi tummelten - und das dank der Welterfolge von Stephenie Meyers "Biss"-Reihe gerade wieder fröhliche Urständ feiert. Mit diesen Büchern ließe sich also auch das aktuelle Jahr ohne Sommer überstehen - oder mit jenen Kunstwerken, die direkt auf den Sommer 1816 Bezug nehmen. So gibt es Ken Russels düstere Fantasie "Gothic" auf DVD - und Reinhard Kaisers Roman "Der kalte Sommer des Doktor Polidori" ist zumindest antiquarisch verfügbar.