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Kollektives Tagebuch Kollektives Tagebuch: «Das Echolot» beschert Kempowski vielfaches Lob

21.03.2005, 12:25
Der Schriftsteller Walter Kempowski blättert in seinem Haus in Nartum (Kreis Rotenburg-Wümme) in einem Exemplar seiner umfangreichen Sammlung von Tagebüchern. (Foto: dpa)
Der Schriftsteller Walter Kempowski blättert in seinem Haus in Nartum (Kreis Rotenburg-Wümme) in einem Exemplar seiner umfangreichen Sammlung von Tagebüchern. (Foto: dpa) dpa

Nartum/dpa. - Die ersten neun Bände der «Deutschen Chronik» hatten ihn vor einem Vierteljahrhundert enormem Publikumserfolg, aber nur begrenzte Anerkennung bei der Kritik eingebracht. Seit vor wenigen Wochen der letzte Band von Kempowskis gigantischer Textmontage «Das Echolot» erschienen ist, hageln Lob und Anerkennung auf das hohe Dach von Haus Kreienhoop nieder.

26 Jahre hat der 75-Jährige in seinem Haus zigtausende vonTagebüchern, Fotos, Briefen und andere private AufzeichnungenUnbekannter aus dem Zweiten Weltkrieg gesammelt, gelesen, sortiert, in Computer eingegeben und, kombiniert mit gleichzeitig entstandenen Texten bekannter Zeitgenossen, zu 8000 Seiten Buchtext zusammengefasst. Im neuen «Echolot»-Band «Abgesang 45» stellt Kempowski mit diesem Verfahren vier ausgewählte Tage vom 20. April bis 9. Mai 1945 vor. Nach seinem Unternehmen, «die Spuren der Totenvor dem ewigen Vergessen zu bewahren», werde Kempowski als großerAutor in die Literaturgeschichte eingehen, schrieb die «FrankfurterRundschau».

Zu den am 20. April 1945, Hitlers letztem Geburtstag, im «Echolot»zitierten Briefeschreibern gehört der Rotarmist Wladimir Alexandrow.Er schildert seinen Eltern in Nowgorod den Marsch durch Ostpreußenund versichert ihnen, dass die Leiden des deutschen Überfalls gerächtwürden. Klara Gawlick aus Königsberg notiert ihre Versuche vom selbenTag, sich zusammen mit den Kindern vor Racheakten sowjetischerSoldaten zu schützen und der befürchteten Deportation zu entgehen.Dr. Erwin Garvens aus Hamburg trägt in sein Tagebuch ein, dass ereine Pause bei den endlosen Luftangriffen zum Gang ins Kino nutzenkonnte. Ein anderer Hamburger empfindet die im Rundfunk gesendeteGeburtstagsrede von Goebbels für Hitler als «recht weinerlich». US-Berichte über Grauenhaftes aus befreiten Konzentrationslagern wieBuchenwald kann er einfach nicht glauben. In Mailand legt BenitoMussolini Vorschläge zur Weltordnung an den Führer für den nichteingetretenen Fall nieder, dass «der Ausgang des Krieges für dieAchse günstig gewesen wäre».

«Ich freu mich über die freundliche Aufnahme und bin sogar einbisschen stolz drüber», sagt Kempowski beim Tee im runden Turmzimmer,dem Allerheiligsten seines Hauses über das gewaltige Echo auf dasBuch. «Der Spiegel» meinte, nun sei es allerhöchste Zeit für denBüchnerpreis an Kempowski, am besten solle man ihm auch noch denFriedenspreis des deutschen Buchhandels geben. Rezensenten wetteifernum das überschwänglichste Lob, der Knaus-Verlag staunt über die hohenVerkaufszahlen.

Kein geringerer als Bundespräsident Horst Köhler kam zurBuchpräsentation in Berlin. Köhler hörte zu, als derLiteraturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma in seiner Laudatio eineewige Sorge des Autors aus dessen Arbeitstagebuch zitierte: «Siewerden mich wieder einen Sammler nennen.» Reemtsma konnte den Autorberuhigen: «Nein. Längst nicht mehr.»

In den nächsten Wochen will der Bundespräsident in NartumKempowskis Rat für seine Rede zum 60. Jahrestag des Kriegsendes am 8.Mai einholen. Nach dem Gespräch wird dann vielleicht auch einMessingschild mit dem Namen Horst Köhler auf das Bücherregal rund umden Tisch im Turmzimmer geschraubt werden. Bisher sind es die Namenvon Schriftstellern, die hier zu Gesprächen oder zu Lesungen beiKempowskis Literaturseminaren ins Haus Kreienhoop gekommen sind. MaxGoldt hat sein Messingschild neben Max von der Grün. Gabriele Wohmannwar ebenso in Nartum wie Benjamin von Stuckrad-Barre. Natürlich sindauch Freunde verewigt wie Uwe Johnson und Peter Rühmkorf.

Mit den Messingschildern wirkt der Raum ein bisschen wie einMuseum, und das ist wohl auch beabsichtigt. Für jeden ersten Mittwochim Monat wird auf der Internetseite www.kempowski.de einLiteraturnachmittag im Haus Kreienhoop angeboten. Der April istwieder ausverkauft. 60 Teilnehmer erwartet nach dem «gemütlichenBeisammensein im Nartumer Hof» und einer Lesung im großen Saal vonKreienhoop als Höhepunkt eine Führung durchs Kempowskis Haus. «Bittebeachten Sie die Mittagsruhe!» ermahnt der Hausherr und frühereDorfschullehrer Interessenten im Internet.

Der gerade erst mit dem Erich-Nossak-Preis Ausgezeichnete schrieb1993 in seinem «Echolot»-Arbeitstagebuch («Culpa») sechs Tage nachder Diagnose seines zweiten Schlaganfalles: «Da ich nicht der Größtewerden kann, will ich das Größte machen.» Köhlers Vorgänger JohannesRau meint wie viele, dass das Ziel erreicht ist. Am 29. April letztenJahres bedankte er sich noch als Bundespräsident zum 75. Geburtstagdes Autors in Nartum persönlich für das «Echolot»: «Sie haben denDeutschen ein einzigartiges Dokument ihrer Hoffnungen und Irrtümer,ihrer Sehnsüchte und ihres Versagens geschenkt.»

Kurz vor dem Abflug des Staatsoberhauptes per Hubschrauber vomSportplatz kam auch noch ein Freund aus dem Nachbarort Hesedorf zumGratulieren angeradelt. Er hat auch eine Meinung zum«Echolot»: «Ich bewundere, dass Kempowski sich für dieLebensäußerungen so vieler anonymer Leute interessieren konnte undsich da in jahrelanger Arbeit durchgefressen hat. Das hat unelitäre,Menschen liebende Züge.»

Der Gelobte ist sich seiner Leistung durchaus nicht immersicher: «Meistens halt' ich mich für einen Blindgänger und bin ganzverzweifelt über mein Versagen.» Die Angst vor dem Scheitern geht soweit, dass ihn beim Schreiben auf dem Apple-Computer das Symbol fürden Papierkorb stört: «Ich hab versucht, den wegmachen zu lassen.Aber das geht ja leider nicht.» Kempowski sagt es nicht ohneSelbstironie und fügt vorsichtshalber hinzu: «Wenn ich die Reihemeiner Bücher angucke, dann denke ich: Du bist doch ein ganzordentlicher Mensch.»

Die Titanenarbeit am «Echolot» hat er auch als Versuch zumAbtragen persönlicher Schuld begründet. 1948 war der damals 18-jährige Reedersohn aus Rostock von einem sowjetischen Militärgerichtzu 8 Jahren Zuchthaus wegen «Spionage» verurteilt worden. Er hatteunter Folter seine Mutter belastet, die ebenfalls ins Zuchthaus kam.Diese nie ganz zu tilgende Schuld habe er mit den Büchern immerhinein bisschen abgetragen, sagt und schreibt Kempowski immer wieder.Aufhören will er noch lange nicht. «Ich möchte jetzt als dritte großeAbteilung meines Lebenswerkes noch die Tagebücher herausgeben.Das ist mein ganzer Wunsch. Neben "Deutscher Chronik" und "Echolot"gleichberechtigt als Lebensäußerung.»

Im schon veröffentlichten Tagebuch-Band «Alcor» benennt er einmutiges Ziel: «Erst wenn die Straßen unserer Städte voll Menschensind, die im Gehen Kempowski lesen, haben wir es geschafft.»Kempowski lacht laut und zustimmend, als er diesen Satz mit demetwas mysteriösen Plural vorgelesen bekommt. Ein Etappenziel sieht ererreicht: »Immerhin werde ich in Berlin in der U-Bahn hin und wiedererkannt. Ist doch auch schon was, oder?» Dass der Stoff ausgehenkönnte, gehört ganz bestimmt nicht zu den kempowskischen Ängsten:«Ich hab seit 1956 sicher 15 000 Seiten Tagebücher geschrieben. Dalässt sich schon Einiges veröffentlichen.»

Überhaupt lotet der frühere Lehrer an der einklassigen Dorfschulein Nartum seine schriftstellerische Leistung auch immer wieder gernedurch Zahlen aus. 163 eigens vom Buchbinder für ihn gefertigteTagebücher a 250 Seiten habe er schon gefüllt - und tue daseigentlich immer. Beim Zeitungslesen oder auch, wie jetzt, nach demGespräch mit einem aus Dänemark nach Nartum gekommenen Besucher. Derkann auf Kempowskis Witz und seine oft zu Recht gerühmte Fähigkeitrechnen, den Leiden anderer literarisch Ausdruck zu verschaffen: «Ichresümiere auch, wenn ich Menschen begegnet bin, die die schlechtedänische Wurst essen müssen.»

Kempowskis ausgeprägter Sinn für Skurriles macht sich mitunterauch optisch im Haus Kreienhoop breit. Monatelang baute er vor Jahrenan einer gigantischen Murmelbahn aus Papier und führte begeistertvor, dass die Kugel für den Weg nach unten mehrere Minuten benötigte.Auch aus Papier und in einer Glasvitrine zu bestaunen ist ein von ihmselbst gebautes Modell seiner im Krieg zerstörten HeimatstadtRostock. Den hohen Dachgiebel des Nartumer Hauses erklärt Kempowskiso schnörkellos wie meistens auch seine literarischen Absichten:«Ich hab' mich an der Bauweise niedersächsischer Bauernhäuserorientieret.» Und warum ist ausgerechnet ein Röntgenbild von HitlersSchädel auf der letzten von 8000 Seiten «Echolot» zu sehen? «Es sollzeigen, dass wir mit ihm zu tun haben werden, so lange wir leben.»