1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Knirschende Zeit: Knirschende Zeit: Künstlerin Antoinette zeigt Werke aus "Mythos Europa" in Prag

Knirschende Zeit Knirschende Zeit: Künstlerin Antoinette zeigt Werke aus "Mythos Europa" in Prag

Von Andreas Montag 21.03.2018, 05:00
Die in Leipzig lebende und arbeitende Künstlerin Antoinette vor dem Prager Museum Montanelli in der berühmten Nerudova, März 2018
Die in Leipzig lebende und arbeitende Künstlerin Antoinette vor dem Prager Museum Montanelli in der berühmten Nerudova, März 2018 Lars Wiedemann

Prag - Manchmal fallen verschiedene Dinge und Ereignisse in frappierender Weise zusammen und schärfen den Blick auf ein Ganzes. Dass einer deutschen Künstlerin in einem renommierten, privaten Museum der tschechischen Hauptstadt eine Werkschau gewidmet wird, ist ohnehin keine Alltäglichkeit. Wenn die Eröffnung wie jetzt geschehen an einem 15. März stattfindet, ist aber auch das Datum von Belang.

An diesem Tag des Jahres 1939 rückte die Wehrmacht in Prag ein. Deutschland besetzte nach der bereits 1938 erfolgten Eingliederung des Sudetenlandes und der am Vortag vollzogenen Abspaltung der ersten Slowakischen Republik das verbliebene tschechische Staatsgebiet.

Das Jahr 68 der Osteuropäer

Ein Drittes und Viertes kommen hinzu: Die Malerin, Grafikerin und Bildhauerin Antoinette beschäftigt sich seit den Tagen der wiedergewonnenen deutschen Einheit gedanklich und gestalterisch mit dem Mythos Europa. Dies nun in Prag vorzustellen, jener Stadt, in dem die sanfte 68er Revolte der Osteuropäer hoffnungsvoll gefeiert und vom Militär des Warschauer Pakts blutig zerschlagen wurde, hat noch einen besonderen Geschmack. Und schließlich spielte die deutsche Botschaft in Prag eine Schlüsselrolle auf dem Weg zum Mauerfall.

Dort, im Palais Lobkowitz, hörten am 30. September 1989 die zu Tausenden aus der DDR Geflohenen vom damaligen Außenminister der Bundesrepublik, Hans-Dietrich Genscher, dass ihrer Ausreise in den Westen nun nichts mehr im Wege stünde.

So viel Zeitgeschichte, in deren buchstäblicher Mitte, an der zur Prager Burg führenden, berühmten Touristenstraße Nerudova gelegen, Antoinette ihren aufregenden künstlerischen Diskurs über Europa in knirschender Zeit zur Diskussion stellen kann. Kein Wunder, dass der deutsche Botschafter in der Tschechischen Republik persönlich die Schirmherrschaft über das Ausstellungsprojekt übernommen hat, das als europäische Tournee angelegt ist.

Seine erste größere Präsentation erlebte der Europa-Zyklus im Herbst 2016 in Eberswalde, in diesem Jahr soll es noch nach Görlitz gehen. In Eberswalde hat Antoinette, geboren 1956, von 2012 an gelebt, bis sie vor einem halben Jahr nach Leipzig übersiedelte. Nach Hause. So empfindet und sagt sie es auch selbst. In Leipzig hat Antoinette Malerei studiert, Wolfgang Mattheuer und Bernhard Heisig, dessen Meisterschülerin sie war, sind ihre Lehrer gewesen.

Betrachtet man die teils großformatigen, farbkräftigen und stark expressiven Bilder, stellt sich der Bezug wie von selbst her: Natürlich, das gehört eindeutig zur Leipziger Schule und ist eindeutig näher am Original als an den neuen, bisweilen neoromantischen Prägungen, die mit Neo Rauch und seinen zahlreichen Nachahmern in Mode sind.

Was hinzukommt: Hier malt eine selbstbewusste Frau, was man den Bildern ansieht. Diese klar weibliche Handschrift tut den Bildern wie der Kunstwelt gut - Letztere sollte das schleunigst stärker zur Kenntnis nehmen. Mit Prag, der zweiten Station auf dem gerade erst begonnenen Europa-Weg der Antoinette, ist schon mal ein starkes Zeichen gesetzt. Und das mag auch den anderen, oft unterschätzten und zu Unrecht als randständige Exotinnen angesehenen Malerinnen in Deutschland einen Aufmerksamkeitsschub bescheren. Dabei brauchte man nur an so bedeutende Künstlerinnen wie Gudrun Brühne oder Nuria Quevedo zu denken, um sich der möglichen eigenen Ignoranz zu schämen.

Für die Prager Schau hat sich Antoinette einen überaus wirksamen Werbe-Gag ausgedacht: Am Fenster der Galerie galoppiert in einem Endlosvideo ein weißer Stier. In dieser Gestalt ist der griechischen Mythologie zufolge der ewig lüsterne Gottvater Zeus der schönen Europa erschienen und hat die Königstochter von Phönizien nach Kreta entführt, um dort, zurückverwandelt, drei Kinder mit ihr zu zeugen. Woraus man lernen kann, dass nicht nur unsere viel beschworene abendländische Kultur, sondern auch die Me-Too-Debatte ihre Wurzeln in der Antike hat.

Der Stier ist überall

Dem Stier begegnet man auch drinnen, im größten der Ausstellungsräume. Und auf den Bildern natürlich. Antoinette fasst das Thema Europa vielseitig an, die weibliche Sicht auf den Mythos gibt dem faszinierenden Werk die Klammer. Oft, fast immer sind Frauen die zentralen Gestalten der Gemälde und auch der erst jüngst entstandenen, großen Zeichnungen, immer wieder schreibt sich Antoinette selbst in ihre Bilder hinein. Die erzählen von Geburt und Kindheit, von Liebe und Sehnsucht, von Gewalt, Entsetzen und Krieg.

Dabei sind es vielfach die Details, Szenen in der großen Szene, die man plötzlich entdeckt - und die einen förmlich umwerfen. In einem der apokalyptischen Bilder über das große Völkerschlachten sieht man einen Sterbenden, der seinen aufragenden Penis umklammert: Was für ein Symbol!

Museum Montanelli, Prag, Nerudova 13, bis zum 30. Juni, Di-Fr 14-18, Sa/So 13-18 Uhr, Eintritt 50 CZK; zu erreichen über Karlsbrücke Richtung Burg, mit der Tram bis zur Station Malostranské náměstí (fünf Minuten Fußweg)

(mz)

Antoinette: Zwischen Tag und Nacht, 2012
Antoinette: Zwischen Tag und Nacht, 2012
Lars Wiedemann