Keine falsche Scham Keine falsche Scham: Ausstellung in Leipzig zeigt Sexualmoral im Wandel

Leipzig - Der Titel sichert schon mal Aufmerksamkeit: „Schamlos?“ knallt die Frage in roten Lettern von den Werbeblättern. Um die Sexualmoral im Wandel geht es bei der Schau, die bis zum 6. April im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zu sehen ist - in aller Offenheit, ganz ohne falsche Scham.
Die ist auch fehl am Platze in einer Zeit, da man sich von früherer, quälender Verdrucktsheit radikal verabschiedet hat und das Intime vielfach zur öffentlichen Angelegenheit macht. Die gut und seriös gestaltete Ausstellung spielt mit der Erinnerung an die Tabuisierung des Leiblichen und der Sexualität, vor der namentlich Kinder und Jugendliche beschützt werden sollten, um sie nicht auf den Pfad der Unzucht und Sünde zu bringen.
Wer in die Ausstellungsräume gelangen will, muss beherzt ein schwarzes Tuch beiseite schieben, dahinter hört man schon vom Vorraum das Ende der 1960-er Jahre entstandene Lied „Je T’aime“ in einer Endlosschleife dudeln, einst Inbegriff der Verruchtheit oder der Verheißung - je nachdem, was man vom Thema Sex hielt.
Im Vorraum der Schau gibt es klinisch rein wirkende Aktenschränke, deren Schubladen wie ein Lexikon funktionieren Dort kann man sich das Prinzip der Viagra-Tabletten erklären lassen und erfährt, nach welchen Spielregeln ein Swingerclub funktioniert. Und auch das Wort Scham wird definiert, das ja sowohl eine Körperregion als auch ein schutzwürdiges Gefühl bezeichnet, das eine nicht verhandelbare, persönliche Angelegenheit ist.
Wo sind die Grenzen?
Genau darum geht es bei dieser Ausstellung im Kern: Was ist Prüderie, über die man heute zu Recht nur noch den Kopf schütteln kann? Und wo wird die öffentliche Verhandlung des Sexuellen so freizügig, dass mancher sich schämt? Dabei wertet die Schau nicht, sondern stellt Objekte und Zitate dem Urteil des mündigen Betrachters anheim, diskutierende Paare und Gruppen belegen den Erfolg der Methode.
Kein Thema, das dabei ausgelassen würde. Bei den aktuellen Phänomen fällt sofort das Thema Sexismus ins Auge, das zumal durch die Werbe- und Medienbranche weite Verbreitung findet und kontrovers diskutiert wird in der Öffentlichkeit. Wo sind hier die Grenzen, was ist noch witzig, was geht zu weit?
Die Leipziger Ausstellung „Schamlos? Sexualmoral im Wandel“ wird bis zum 6. April kommenden Jahres im Zeitgeschichtlichen Forum in der Grimmaischen Straße 6 im Zentrum der Messestadt gezeigt. Die Schau ist dienstags bis freitags von 9 bis 18 Uhr geöffnet, samstags, sonntags und an Feiertagen von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Das Museum gehört zur Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Die Stiftung im Internet: www.hdg.de
Ein berühmt gewordenes, anzügliches Plakat der Jungen Union Wittmund ist zu sehen, das den Torso einer nahezu nackten Frau zeigt - und zwei Hände, die bauchabwärts in ihren Slip zielen: „Wir gehen tiefer!“, hieß die politische Botschaft. Aber wie legitim ist die Aufregung über derartige Hingucker, wenn man liest, dass weltweit in jeder Sekunde fast 30.000 Pornofilme im Internet abgerufen werden? 60 Prozent der Männer und jede zehnte Frau in Deutschland sehen mindestens einmal wöchentlich Pornos im Internet.
Das ist ein Fakt, der sicher auch von Einsamkeit und Sehnsüchten erzählt - in einer Gesellschaft, die immer noch offener mit dem Sexuellen umgeht und sich nicht ungern davon provozieren lässt. Conchita Wurst, Travestiestar aus Österreich, besetzt dabei nur eine der schillernden Positionen. Sie passe in keine Schublade, sie brauche die ganze Kommode, wird die erfolgreiche Sängerin zitiert.
Ikone und Kronzeugin
Wenn aber Conchita Wurst zur Ikone und Kronzeugin geschlechtlicher Orientierungssuche und der Freude am Verwirrspiel ist, das auch etwas mit Selbstschutz zu tun haben könnte - warum soll dann die Pop-Sirene Beyonce in ihrem Lied „Blow“ nicht singen dürfen, womit sie in der Ausstellung zitiert wird: „Can you lick my skittles, That’s the sweetest in the middle“? Da wird freimütig unter der Gürtellinie diskutiert, lasterhaft, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten genannt worden wäre. Es ist durchaus eine Freude, sich diese Schau anzusehen, Erwachsene sollten getrost ihre Heranwachsenden mitnehmen. Zu staunen gibt es genug, gerade über das Vergangene, das noch gar nicht so lange zurückliegt: Masturbationsverbote, weil man sonst „Hirnschwund“ bekäme. Oder der Mann im freien Westen, der noch in den 50er Jahren bestimmte, was in der Ehe geschah. Da mag man sich über zeitgenössische Überschreitungen gar nicht mehr so sehr erschrecken. Und schon gar nicht wundern. (mz)

