Keimzeit Keimzeit: Rebellen in Moll
Halle (Saale)/MZ. - Sie hatten immer ihre eigene Art, zu rebellieren. Nicht laut, nicht grell. Die Gruppe Keimzeit, vor 30 Jahren gegründet von den drei Brüdern Leisegang und zumindest in ihren ersten Jahren beheimatet im lauschigen Örtchen Belzig in Brandenburg, zelebrierte das Schlurfige, Verspulte als höchste Form des Widerstands. Punk und finstere Gruftmusik machten ja alle anderen schon.
Die richtige Idee zur richtigen Zeit, denn reichte es zu Lebzeiten der DDR nur zu regionalem Ruhm als hervorragende Konzertband, stürmten Keimzeit-Kompositionen mit humorigen Namen wie "Kling Klang" nach dem Mauerfall die Hitparaden. Keimzeit waren die ostdeutsche Antwort auf Element of Crime, ehe Sven Regener überhaupt auf den Gedanken gekommen war, eine Zeile auf Deutsch zu singen. Die Konzerte der Kapellen-Kommune auf Dauertournee über die Dörfer dauerten nicht selten vier Stunden. Und sie endeten in der Regel mit einer Verbrüderung zwischen Fans und der einzigen Hitparaden-Band der Welt, die nie ein Hotel buchen musste. Irgendwo in einer WG waren immer ein paar Betten frei, warteten immer ein paar Flaschen Rotwein und nachmitternächtliche Gespräche.
Fast ein Jahrzehnt schien es, als könne das immer so weitergehen. Dann aber kam der Schnitt. Ein Schritt weg vom "Müsli-Chanson-Rock-'n'-Roll" (Sänger Norbert Leisegang), hin zu modernerem Rock mit Elektronik und einem Vocal Coach, der die Gruppe ins neue Jahrtausend beförderte. Sie aber zugleich ihren Gitarristen Ulle Sende und zahlreiche Fans kostete.
Alben wie "Stabile Währung Liebe" oder "1 000 Leute wie ich" hatten nicht mehr die kumpelige Atmosphäre eines Schülerbandauftritts, sondern zum Teil kalte, klare Linien. Dass ihnen Unrecht tat, wer sie als "viel schlechter als früher" abtat, belegt die Neuauflage, an die sich Keimzeit jetzt mit ihrem eigens gegründeten Label "Comic Helden" herangewagt haben. Beginnend mit der 2002 erschienenen CD "1 000 Leute wie ich" wurden "Privates Kino", "Mensch Meier Live" und "Stabile Währung Liebe" neu aufgelegt. Dazu gibt es mit "Land in Sicht" ein Doppel-Album, das 16 Lieblingslieder aus den 2000er Werken mit Neueinspielungen von alten Keimzeit-Hits wie "Bunte Scherben" und "Kintop" und unveröffentlichten Demoaufnahmen kombiniert.
Plötzlich ist der Sprung vom Wir zum Ich, von der DDR-Blueskapelle zum elektromagnetischen Rockorchester gar nicht mehr so groß. Das hier klingt ein bisschen anders, ein bisschen sauberer und weniger nach Dorfmugge. Doch spätestens wenn Leisegang singt, sitzt der Hörer wieder in der "Nachtvorstellung der Verrückten", im "Irrespätprogramm". Sogar "Kling Klang", der große Hit, den Norbert Leisegang irgendwann so sehr nicht mehr hören konnte, dass er sich weigerte, ihn im Konzert zu spielen, ist schlagartig wieder, was er wahrscheinlich immer gewesen ist - ein Ohrwurm. Der Rest? Klingt in seinen besten Momenten nicht nach dem Muff der 90er.
Das war den Alben des Spätwerkes ohnehin nie vorzuwerfen. Mit den neuen Produzenten, die im neuen Jahrtausend übernahmen, waren Keimzeit trotz personeller Kontinuität und Leisegangs unverwechselbarer Lapidar-Lyrik nicht mehr dieselbe Band. Die musikalischen Räume sind größer geworden, das Saxophon klingt nicht mehr nach Gerry Rafferty, ein Hauch von Kraftwerk liegt unter den Stücken. Die sind noch immer kein Heavy Metal, verweiger aber gelegentlich schon demonstrativ, als Rambazamba mit Samba wahrgenommen zu werden.
Wirklich, Leisegangs Mollstimme, die immer aus einem Tiefbrunnen verletzter Gefühle zu kommen schien, kippt hier - etwa bei "Mailand" - in die hohe Stimmlage. Aufgabe des Refrains ist es nicht mehr, Ohrwürmer einzufangen, Aufgabe der Gitarre nicht, herumzuschrammeln. Stattdessen gibt es beiläufige Clapton-Licks, Uhuuuh-Chöre und verrätselte Texte, die nicht Leiden mitteilen, sondern zum Mitleiden einladen wollen.
Keimzeit spielen am 29. Januar ein exklusives Unplugged-Konzert im halleschen Studenteklub Turm.
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