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Jurek Becker Jurek Becker: Ihr Unvergleichlichen

Von Christian Eger 27.08.2004, 15:14

Halle/MZ. - Mehr ein Schweben als Schreiten ist es gewesen, als Hermlin in den frühen 50ern Jurek Beckers Ostberliner Schule besuchte. "Ich konnte Dir kaum zuhören", schreibt Becker Jahrzehnte später an Hermlin, "denn ich mußte Dich auf eine Weise ansehen, die alle meine Aufmerksamkeit fraß." Wie sah er diesen Mann? "In einer rostbraunen Jacke, in grünem Rollkragenpullover, überlegen, dunkelhaarig und schön, wie unsere Schule es noch nicht gesehen hatte. Ich glaube, es war der stärkste Eindruck, den je ein Mann auf mich gemacht hat. So einer, wie der da oben, wollte ich werden, so prächtig und anziehend war mir ein Schriftsteller noch nie begegnet."

Der Wunsch sollte sich nicht erfüllen. Jurek Becker ist kein Pfau geworden, sondern ein Schriftsteller, der Humor, Herz und Entschlossenheit punktgenau vereinte; seine Aggressivität ist von einer ansteckenden Lebendigkeit. Ein Autor, der auf die Frage nach dem Warum seines Treibens antwortete: "Ich bin da, um ein bisschen Remmidemmi zu machen. Ich bin da, um für ein bisschen Stimmung zu sorgen. Ich bin da, um für ein bisschen Wachheit zu sorgen."

Das alles ist zu finden in der Sammlung von Briefen, die von Christine Becker und Joanna Obrusnik aus dem Nachlass des 1997 im Alter von 56 Jahren gestorbenen Schriftstellers herausgegeben worden ist. Dabei war der lakonische Becker mehr ein Postkarten- als Briefschreiber. Für die lange Post machte er sich Entwürfe in Schulheften, so genau nahm er das Wort. Im November 1969 hebt der Briefband an und endet im November 1996, ein Vierteljahr vor Beckers Tod. Kein Lebens-, aber ein Lebenslinienbuch ist es geworden: Was der 1937 im Ghetto von Lodz geborene Sohn jüdischer Eltern über sich, die Welt und seine Freunde dachte, hier ist es in Spuren aufgehoben; was der Autor des Erfolgsromans "Jakob, der Lügner" über die Literatur und die Literaten dachte auch.

Im Dezember 1970 äußert sich Jurek Becker, damals noch Ostberlin, über eine "Jakob"-Kritik aus der Feder von Marcel Reich-Ranicki, damals bereits Frankfurt am Main: "Wenn man mal von der umsatzsteigernden Wirkung absieht (die sicher nicht von schlechten Eltern ist) und das Ding destilliert, bleibt am Ende kaum mehr als ein Häufchen Scheiße. Aber na ja, wem sage ich das." Das wird Reich-Ranicki nicht freuen. Nur hätte man - na ja - als Leser doch gerne gewusst, worauf sich Beckers Polemik bezieht, ausgerechnet das gibt der Anhang nicht her: kein Artikel-Hinweis, kein Zitat - nur der Groll. Immerhin schön gegrollt, aber solche Lässigkeiten gestattet sich das Buch, das den schönen Titel "Ihr Unvergleichen" trägt - so grüßte Jurek Becker das Autorenpaar Inge und Stefan Heym. Die Schreiberfreunde waren das eine, der Literaturbetrieb das andere: der ist Becker herzlich fremd geblieben. Fabelhafte Absagen an klamme Veranstalter ("daß offenbar eine Ansicht vorherrscht, Schriftsteller seien eine Spezies, die vorwiegend vom Gesang lebt") oder faule und anmaßende Journalisten sind zu lesen.

Ansonsten wusste er ja vieles auch nicht besser, das aber bekannte er mit klugem Charme. Noch im September 1987 schreibt er an Leila Vennevitz, die Übersetzerin ins Englische: "Oft überlege ich sogar, was aus mir einmal im Leben werden soll? Denn ich halte diese Frage durchaus noch nicht geklärt." Das Unglück der meisten Menschen erklärte sich Becker nicht etwa damit, dass diese keinen Weg fänden, ihre Wünsche zu erfüllen, sondern dass diese ihre Wünsche gar nicht kennen. Becker selbst fand sein Zufriedenheitsrezept darin, "sich selbst etwas abzuverlangen".

Weil die DDR nur den zurechtgestutzten Becker verlangte, verließ er sie 1977 Richtung Westberlin: ausgestattet mit einem Pendler-Visum erst für zwei, dann für zehn Jahre. Aber Becker konnte nicht loslassen, woran er litt - in den Oststaat rettungslos verbissen. 1980: "meine einzige Krankheit ist die DDR". 1989 an den Zensur-Minister Höpcke: die Vorstellung, "ein normaler Westdeutscher zu werden", falle ihm "sehr schwer".

Am Schreiben für das Fernsehen, das er mit "Liebling Kreuzberg" bestens bediente, litt er: Es "befriedigt mich ungefähr so wie ein Sturz aus einem Fenster im - sagen wir - zweiten Stock", aber der "Erwerbstrieb" trieb ihn voran. Ein hinreißend Hin- und Hergerissener also, dem man gerne zuhört, was dieser Band ja auch in Fülle gestattet.

Nur hätte die Briefauswahl um ein Drittel mindestens kürzer sein dürfen - so beiläufig und dürr geschäftlich ist doch manches. War hier zu viel Zuneigung am Wirken? Ein Vollständigkeits-Ehrgeiz? Auf die Selbst-Musealisierung des Suhrkamp-Verlages ist Jurek Becker jedenfalls nicht angewiesen.

Jurek Becker: Briefe, Suhrkamp, Frankfurt, 440 Seiten,24,80 Euro