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Julien Gracq Julien Gracq: Der letzte Erbe des Surrealismus

Von Sabine Glaubitz 26.07.2005, 09:15
Julien Gracq feiert am Mittwoch seinen 95. Geburtstag. In völliger Stille und Zurückgezogenheit lebt er seit langem in seinem westfranzösischen Heimatort Saint-Florent-le-Vieil. (Foto: dpa)
Julien Gracq feiert am Mittwoch seinen 95. Geburtstag. In völliger Stille und Zurückgezogenheit lebt er seit langem in seinem westfranzösischen Heimatort Saint-Florent-le-Vieil. (Foto: dpa) AFP FILES

Paris/dpa. - Denn Julien Gracq, der am Mittwoch 95 Jahre alt wird, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwartsliteratur und zu den wenigen Meistern, deren Gesamtausgabe in der berühmten, besonders aufwendig ausgestatteten Editionsreihe Pléiade des PariserVerlags Gallimard veröffentlicht wurde - eine Ehre, die lebendenAutoren äußerst selten zuteil wird. Auf Deutsch erschienen erst vor wenigen Wochen seine Erzählungen «Witterungen II».

Gracq, der zurückgezogen und allein in seinem Geburtsort Saint-Florent-le-Viel bei Nantes lebt, machte erstmals 1950 mit dem Essay «La littérature à l'estomac» (Die Literatur im Magen) von sich reden. Darin kritisierte er den französischen Literaturbetrieb, der nur noch auf «Konsumierbares» abziele, und das Literaturpreis-Unwesen: «Da sieht man plötzlich einen Schriftsteller auftauchen, der unter Peitschenknallen und Trompetenstößen in der Zirkusarena vergebens versucht, seinen Hintern zu heben. Aber es gelingt ihm nicht: Er erreicht den Stall, er stürzt sich zur Futterkrippe. Von nun an ister nur noch zum Quasseln zu gebrauchen oder dazu, nun seinerseits in ein literarisches Preisgericht gesteckt zu werden.»

Konsequent lehnte der aus einer Handwerkerfamilie stammendeEinzelgänger denn auch den begehrten Prix Goncourt für sein Werk «Das Ufer der Syrten» ab. Frankreichs Kritik vergötterte Gracq daraufhin als den «letzten Reinen» und war von seiner unverwechselbaren Handschrift, der klirrend scharfen Prägnanz des Ausdrucks, den atmosphärischen Sprachbildern und dem kühlen Ton, der bereits in seinen Debütwerken «Auf Schloss Argol» und «Un beau ténébreux» (Ein schöner Finsterling) zu tragen kam, hellauf begeistert.

Vor allem Gracqs Landschaftsbeschreibungen sind von einzigartiger Metaphernkunst, Atmosphäre und Dichte. So ist in seinem Werk «Das Ufer der Syrten», das von der Lethargie und Müdigkeit einer erschöpften Zivilisation handelt, zu lesen: «Als seine Klippen blendend weiß dem fernen Schimmern des Meeres entstiegen, erschien Vezzano plötzlich seltsam nahe (...). Unwirklich fast im Strahlen seines weißen Panzers, entsprang der Felsen senkrecht dem Meer, schwebend überm Horizont gleich einem Dreimaster mit prallen Segeln(...).» Gracqs früher Mentor und Freund André Breton nannte ihn wegen seiner surreal-poetischen Beschreibungen auch den «letzten Erben des Surrealismus».

Gracq, der eigentlich Louis Poirier heißt, lebt auf Distanz - zusich, zur Literatur und zur Welt. Und das schon seit jeher. Dennnicht einmal Lehrer und Schüler des Pariser Gymnasiums, an dem er von 1948 bis 1970 Geschichte und Geographie unterrichtete, wussten etwas von seiner Leidenschaft zu schreiben. Sie wussten auch nicht, dass sein Name identisch war mit dem Autor, der sich aus Verehrung für Stendhal, dessen «Rot und Schwarz» er als Schüler seitenweise auswendig gelernt hatte, Julien nannte und Gracq wegen der klanglichen Anleihe an den Gral - dessen Geschichte ebenso geheimnisvoll ist wie die des Autors.