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Johann Christian Reil Johann Christian Reil: Wie man einem toten Mann etwas Leben einhaucht

Von CHRISTIAN EGER 05.04.2011, 17:30

Halle (Saale)/MZ. - Ein Workaholic, der bei allem Pragmatismus über eine romantische, aber nie sentimentale Ader verfügt.

Eine der besten Beschreibungen der Persönlichkeit des großen Mediziners Johann Christian Reil (1759-1813) liefert dessen Freund, der Naturphilosoph Henrik Steffens. Der notiert in seiner dem Arzt gewidmeten "Denkschrift": "Wen er gewinnen wollte, gewann er gewiß, ebenso bestimmt trennte er sich von ihm fremden Naturen. Man mußte ihn hassen oder lieben, mit ihm verbündet sein, oder gegen ihn kämpfen. Alle Neutralität verschwand, wenn man mit ihm in ein bedeutendes Verhältnis trat. Bestimmt, fest, entschieden, wie er war, zwang er einen jeden, sich zu entscheiden. Gleichgültig blieb keiner." Starke, wie handgemeißelte Sätze über einen offenkundig eindrucksvollen Mann, der als praktischer Arzt und Begründer der Psychiatrie eine europäische Erscheinung war, der aber in Halle, wo er wirkte, allen Bemühungen zum Trotz, heute wenig mehr ist als eine Straßennamen-Berühmtheit.

"Wie kann man einen so toten Mann wieder lebendig werden lassen im öffentlichen Bewusstsein?", fragen die halleschen Literaturwissenschaftlerinnen Heidi Ritter und Eva Scherf. Um gleich selbst zu antworten: Indem man diesem Reil "einige Injektionen Wirklichkeit verpasst". Wie das gelingen kann, zeigen die Autorinnen mit dem unter dem Titel "Habe unbändig viel zu tun..." im Hasenverlag über Reil veröffentlichten biografischen Versuch, der mehr ist als ein Lebensbild: nämlich ein anregender Grundkurs in Medizin-, Kultur- und Regionalgeschichte um 1800. Und das bei einer Aktenlage, die über den privaten Reil wenig hergibt. Trotzdem gelingt ein Text, der nah und neu an der Persönlichkeit Reils entlangschreibt, der unaufdringlich erklärt - und zu keinem Zeitpunkt langweilt. Allein das Auftaktkapitel "Anamnese" ist ein kleines Beschreibungskunststück.

Von 1780 an studierte Reil in Halle unter anderen bei dem Pathologen Meckel Senior, dessen Söhnen Wilhelm Bartsch dieser Tage in seinem Roman "Meckels Messerzüge" ein öffentliches Comeback bescherte. Reil nun ist ein Mediziner ebenfalls von Meckelschem Format: Amtsarzt in Halle, Direktor des Klinikums, Hochschullehrer, Gynäkologe, Augen- und Badearzt, Hirnanatom und der weltweit erste Mediziner überhaupt, der das Wort "Psychiatrie" verwendete. Und er war erfolgreich, auch finanziell.

Was interessant ist an diesem Mann: Er begreift früh die soziale und seelische Dimension körperlicher Krankheiten, also "gebt dem Verdienstlosen, wenn er keine Arbeit hat, Arbeit". Er hält Geisteskrankheiten für heilbar mittels "psychischer Curmethoden", die heute als brutal erscheinen mögen. Aber die Autorinnen stellen fest: "Die Tränen des Mitgefühls (hauptsächlich mit sich selbst!) werden zwar in Romanen und Briefen der Zeit vergossen, in der Wirklichkeit aber sind Gewalt und Rohheit als Mittel der Erziehung allgemein akzeptiert." Reil will die Kranken mit körperlichen Reizen "gängeln" zum "vollen Vernunftgebrauch".

Bei Reil ist das Medizinische weder vom Gesellschaftlichen noch vom Geistigen zu trennen; auch das macht die Lektüre des Buches so reizvoll. Nur ein dem Nachruhm gewidmetes Kapitel hätte man doch noch gern gelesen. Beigesetzt wurde Reil, der 54-jährig starb, auf einem kleinen Berg in seinem weitläufigen Parkgrundstück, das seit 1901 dem halleschen Zoo Raum bietet. "Es ist kein leichtes Los", schließen die Autorinnen, "als bedeutender Mann zwischen Affen und Zebras begraben zu sein."

Heidi Ritter, Eva Scherf: Habe unbändig viel zu tun... Johann Christian Reil. Mitteldeutsche Kulturhistorische Hefte Nummer 23. Hasenverlag, 120 Seiten, 12,80 Euro