Interview Interview: Untergang der Gustloff ist ein «heikles Thema»
Hamburg/dpa. - Für den Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass ist es ein Versäumnis der deutschen Nachkriegsliteratur, dass sie dieLeiden der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg nichtfrühzeitiger aufgegriffen hat. Diese Thema sei in der DDR absolut tabuisiert und im Westen einzig den Vertriebenenverbänden überlassen worden, oft mit revanchistischem Unterton, sagte Grass am Dienstag in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur zum Erscheinen seiner Novelle «Im Krebsgang». Darin greift Grass die Versenkung des deutschen Passagierschiffs «Wilhelm Gustloff» am 30. Januar 1945 durch ein russisches U-Boot auf. Etwa 9000 Menschen starben, darunter viele Zivilisten, aber auch Soldaten, die an Bord waren.
Frage: «Warum haben Sie dieses historische Ereignis als Literaturthema aufgegriffen?»
Grass: «Es nicht das erste Mal, dass ich mich mit der Vertreibung und der Flucht der Deutschen aus den Ostprovinzen befasse. Schon in meinem Roman "Die Blechtrommel" handeln zwei Kapitel von der Besetzung Danzigs durch die russische Armee und dem Flucht- undAusweisungsthema. Aber ich habe es noch nie so ausführlich behandelt. Dieses Thema war immer im Hintergrund, aber es standen die anderen von uns Deutschen verübten Verbrechen aus zwingenden Gründen im Vordergrund und sind so dominierend gewesen, dass offenbar für viele kein Raum, keine Zeit mehr blieb, sich damit eingehend zu befassen.Es gibt keinen deutschen Autor der Gleichwertiges zur Zerstörung Dresdens geschrieben hat wie der Niederländer Harry Mulisch mit seinem Roman "Das steinerne Brautbett" (1959) oder der US-Autor Kurt Vonnegut mit "Schlachthaus 5 oder Der Kinderkreuzzug" (1969).»
Frage: Haben Sie eine persönliche Beziehung zu der Tragödie?
Grass: «Bekannte und Familien haben mir davon erzählt, dass sie noch auf die Gustloff wollten. Hinterher sind jene, die überlebt haben,froh, dass sie nicht Platz gefunden haben. Und es gibt in meinen früheren Büchern Hinweise auf die Gustloff, auf die Frage, was ist aus meiner Romanfigur Tulla Pokriefke und ihrer Familie geworden samt der Vermutung, dass sie mit der Gustloff ertrunken sind. Jetzt gab diese frühe Figur, die in "Katz und Maus" und "Hundejahre" eine wichtige Rolle spielt, mir die Möglichkeit, die Stoffmasse zum ThemaWilhelm Gustloff literarisch zu gestalten.
Aber ich mchte noch etwas anderes dazu sagen. Mir liegen die ersten Rezensionen zu meinem Buch vor. Ich wundere mich, dass überdas Versenken eines ausschließlichen "Flüchtlingsschiffs" berichtet wird. Die Novelle macht klar, dass die Gustloff außer Flüchtlingen auch über 1000 U-Boot-Rekruten, Soldaten und 370 Marinehelferinnen an Bord gehabt hatte. Es ist die Verantwortung von Großadmiral Dönitz gewesen, ein so gemischt-belegtes Schiff auf die Reise zu schicken. Warum werden diese Tatsachen ignoriert, zumal diese historisch falsche Darstellung vonRechts in der Novelle eine Rolle spielt? Da wünschte ich mir dann doch genauere Lektüre, das ist ein vielschichtiges Thema.
Frage: «Hat die deutsche Nachkriegsliteratur das Leiden der deutschen Bevölkerung auf der Flucht vor der Roten Armee tabuisiert?»
Grass: «Deutschland ist ja noch vor relativ kurzer Zeit zweigeteilt gewesen. In der DDR war es absolut tabuisiert. Die Flüchtlinge wurden Umsiedler genannt. Auch dieser verschiedene Sprachgebrauch schlägtsich in der Novelle nieder. Im Westen hat man dieses Thema einzig den Vertriebenenverbänden überlassen, oft mit revanchistischem Nebenton. Das ist ein Versäumnis der Literatur gewesen, ich schließe mich da nicht aus.»
Frage: Einzelne Kritiker empfinden, dass Ihre Novelle allzu pädagogische, politische Absichten hat.
Grass: «Es handelt sich um einen Stoff der Vergangenheit, der in der Gegenwart verankert ist. Es geht auch um einen Jugendlichen, der sich politisch nach rechts verrannt hat und der über das Internet seine Position verbreitet. Mir kam es darauf an, die rechtsradikale Szene aus der bloßen Fixierung auf die Skinheads herauszulösen.