Interview mit Günter Kunert Interview mit Günter Kunert: «Das Ost-Auto durchlassen!»
KAISBORSTEL/MZ. - Zuletzt erschien im Wallstein Verlag sein Buch "Die Geburt der Sprichwörter". Mit Kunert sprach unser Redakteur Christian Eger.
Herr Kunert, wo waren Sie am 13. August 1961?
Kunert: Teils daheim, teils unterwegs. Teils in Ostberlin, teils in Westberlin. Es war ein merkwürdiger, sehr umtriebiger Tag.
Was trieb Sie um?
Kunert: Dass mich morgens ein Freund anrief und sagte: Stell sofort das Radio an! Es ist was passiert! Das hatte ich gemacht. Und es war was passiert. Und zehn Minuten später erschien der Freund bei mir, über beiden Armen Kleidungsstücke und Mäntel und völlig aufgelöst, und sagte: Du hast doch da diese Karte, mit der du immer nach Westberlin gefahren bist.
Die Grüne Karte.
Kunert: Die gab es vor dem Mauerbau. Eine Karte für das Auto, die man beantragte, um rüberfahren zu können. Ärzte hatten die, die Patienten in Westberlin behandelten. Wissenschaftler, die bestimmte Bibliotheken nutzen mussten. Das tat ich auch und ich hatte also auch diese Grüne Karte. Und der ganze Witz bei der Angelegenheit war: So perfekt die Absperrung war, irgend jemand hatte vergessen, diese Karten für ungültig zu erklären.
Und der Freund sagt also, du hast doch diese Grüne Karte. Meine Familie, Frau und zwei Kinder, sitzen in Tempelhof auf dem Flugplatz. Wir wollten jetzt nach Westdeutschland fliegen. Bringe denen mal bitte ihre Sachen, ich kann es ja nicht mehr. Da bin ich nach Tempelhof gefahren, wo die Familie tränenüberströmt saß. Habe die Sachen abgeliefert und habe sie getröstet und habe ihnen gesagt: Es wird schon irgendwie klappen. Euer Vater, Karl Heinz, der wird denn auch schon zu euch kommen können. Das wird sich schon alles irgendwie regeln.
Tat es das?
Kunert: Es hat sich natürlich gar nichts geregelt. Dieser Mann ist dann etwa zehn, elf Jahre später in Ostberlin gestorben. Er hat keine Ausreise bekommen. Nichts mit Familienzusammenführung. Und ich musste zwei Tage später die Grüne Karte abgeben in einem merkwürdigen Ministerium irgendwo. In meiner Naivität fragte ich: Und wann bekomme ich die neue Grüne Karte? Sie werden benachrichtigt! Auf diese Benachrichtigung warte ich noch heute.
Was sahen Sie an der Grenze?
Kunert: Ich bin durchs Brandenburger Tor gefahren. Dort standen Kampfgruppenleute. Und dort war zunächst nichts anderes als eine Rolle Stacheldraht ausgerollt. Ich bin dann da durch, habe Wege erledigt. Auf der Rücktour, am Ernst-Reuter-Platz und am Großen Stern, waren schon Massen von Westberlinern unterwegs und natürlich aufgebracht, klar. Ich bin in diese Menschenmasse mit meinem Auto geraten und habe versucht, da wieder rauszukommen. Ich kreiste immer um die Siegessäule. Die ließen mich irgendwie nicht mehr durch. Das war also auch eine ganz brenzlige Situation. Bis dann aus einem Polizeiwagen die Stimme ertönte: Das Ost-Auto durchlassen! Ich fuhr dann die Straße des 17. Juni Richtung Brandenburger Tor. Als ich darauf zufuhr und die Verteidiger der Heimat da stehen sah, war ich auch nicht gerade sehr beglückt. Die hoben den Stacheldraht hoch und ich fuhr drunter durch.
Als Sie in Ostberlin waren, dachten Sie da kurzzeitig: Ich habe einen Fehler gemacht?
Kunert: Es war eher ein ambivalentes Gefühl. Und sehr bedrückend. Es war ja zu dieser Zeit so: Noch herrschte ein leichter Schwebezustand. Es war, gerüchteweise, noch nichts entschieden. Es gab noch viele Hoffnungen bei vielen Leuten, es würde die Möglichkeit geben, Verwandte besuchen zu können. Kurze Zeit danach, wusste man, es ist endgültig Schluss.
Hatten Sie mit dem Bau der Mauer gerechnet?
Kunert: Nein. Ich war wirklich ein Illusionär, auch ein früher Utopist.
Westdeutsche Schriftsteller wandten sich nach dem 13. August an den DDR-Schriftstellerverband mit der Forderung, dass dieser seine Stimme gegen die Mauer erhebe. Hat Sie dieser Ruf erreicht?
Kunert: Ich habe diesen Ruf natürlich vernommen. Aber es ist etwas anderes, wenn man an Land sitzt und den Untergehenden auf einem Schiff zuruft: Hier sind Rettungsringe, schwimmt zu uns herüber!
Gab es kontroverse Diskussionen unter den Schriftstellern, wie man sich zur Mauer verhalten sollte?
Kunert: Ein Teil der konformistischen Autoren war beglückt. Jetzt sind wir endlich unter uns, das war die gängige Formel. Jetzt können wir mehr sagen als vordem, der Klassenfeind dringt nicht mehr zu uns ein. Die Freiheiten werden größer. Das habe ich vom ersten Moment an nicht geglaubt. Es war klar: Wenn jetzt hier abgeschottet wird, hat das eine Rückwirkung auf das "Geistige Leben" der DDR.
Wann war das zu spüren?
Kunert: Meine ersten Schwierigkeiten setzten 1962 ein, als ich mit drei anderen Autoren sozusagen zum Richtplatz geführt wurde. Mit Peter Huchel, weil er "Sinn und Form" leitete. Stephan Hermlin, weil er Wolf Biermann in der Akademie vorgestellt hatte. Mit Peter Hacks für sein Stück "Die Sorgen und die Macht". Und ich für einige Gedichte und Fernsehfilme. Wir wurden als die bösen Buben entlarvt. Und das hieß für mich dann schon, es beginnen harte Zeiten.
Die Mauer war aber nicht nur ein Berliner Ereignis. Die Grenze wurde 1961 rundum dicht gemacht.
Kunert: Ja, natürlich. Aber die psychische Situation von Leuten, die - sagen wir mal - in Mecklenburg-Vorpommern saßen, war höchst unterschiedlich zu der in Berlin-Prenzlauer Berg. Für die Berliner, die ja alle miteinander versippt, verwandt, verschwägert oder sonstwie verbrüdert waren, war das ein enormer Schock und eine Katastrophe.
Hätte es ohne die Mauer eine DDR geben können?
Kunert: Sehr wahrscheinlich nicht. Deren Existenz hing ja nicht vom guten oder schlechten Willen des Herrn Ulbricht ab. Der Kalte Krieg war schon in ein ziemlich gefährliches Stadium getreten.
Obwohl die Historiker heute belegen, dass es Ulbricht war, der die Mauer errichten wollte - und nicht Chruschtschow, der davon träumte, Ostberlin als Sozialismus-Schaufenster nach Westen einzurichten.
Kunert: Es gibt ganz unterschiedliche Ansichten. Auch die, dass Chruschtschwos Vorgänger Malenkow die DDR verkaufen wollte. Auch Berija, der schlimme Geheimdienstchef Stalins. Ich besitze ein Flugblatt mit einem Foto von Molotow, da steht drunter: "Deutschland wird vereinigt werden".
Ist die DDR-Literatur dem Thema Mauer gerecht geworden?
Kunert: Nein. Eigentlich nein. Höchstens in einem geringen und dann kryptischem Maße.
An welche Literatur denken Sie?
Kunert: In der Hauptsache haben ja Westberliner und westdeutsche Autoren die Mauer thematisiert. Wer das in der DDR tat, war ja nicht gerade als Schriftsteller zu bezeichnen.
Das bekannteste Buch ist "Der geteilte Himmel" von 1963.
Kunert: Christa Wolf war die einzige, die dazu noch etwas zu sagen hatte in einer lesbaren Sprache. Aber ansonsten hörte man ja nur Propagandagetrommel.
Was bedeutet Ihnen der 13. August als Erinnerungstag?
Kunert: Dieser Tag ist ein Stück meines Lebens. Ich habe ja bis zu meinem 50. Lebensjahr in Ostberlin gehaust. Das kann man weder auslöschen noch vergessen. Es gehört zu den Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe.
Was für eine Erfahrung bot die Mauer?
Kunert: Die Erfahrung einer schrecklichen Wehrlosigkeit. Eines Ausgeliefertseins. Man war der Macht ausgeliefert.
Wie sollte man heute an den Mauerbau erinnern?
Kunert: An Geschichte sollte man sich immer erinnern. Aber das Interesse, was jetzt schon spürbar ist, wird in den jüngeren Generationen sehr gering sein. Die kennen Fotos von der Mauer oder Filmausschnitte. Haben vielleicht einen Fernsehfilm gesehen wie "An der Grenze". Aber das ist für sie Hollywood oder Dreißigjähriger Krieg. Lange, lange her. Die physische und psychische Situation ist schwer zu vermitteln. Nur Künstler oder Schriftsteller können eine Ahnung davon geben. Mehr ist ja nicht möglich.