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Interview mit Alexander Kluge Interview mit Alexander Kluge: "Weihnachten sieht man ins eigene Herz"

Von Christian Eger 23.12.2013, 20:41
Alexander Kluge: Nie würde man Weihnachten gegen eine Pflegeversicherung eintauschen.
Alexander Kluge: Nie würde man Weihnachten gegen eine Pflegeversicherung eintauschen. laif/ markus kirchgessner Lizenz

München/MZ - Er ist Schriftsteller, Filmemacher, Interviewer, Fernsehproduzent und promovierter Jurist. Und er ist ein Kind der mitteldeutschen Kulturlandschaft: Alexander Kluge (81) wurde in Halberstadt geboren, wo er aufwuchs. Bis heute ist der Wahl-Münchner seiner Vaterstadt eng verbunden. Mit Alexander Kluge sprach unser Redakteur Christian Eger.

Herr Kluge, was ist Weihnachten?

Alexander Kluge: Ein Fest, das unverkäuflich ist für Menschen. Obwohl vorher immer ein Verkaufsrummel eintritt, wird niemand Weihnachten aufgeben wollen. Nie würde man das als Feiertag gegen eine Pflegeversicherung eintauschen wie andere Festtage.

Worin besteht der besondere  Wert?

Kluge: Das ist sehr schwer zu sagen. Für mich gehört die Erinnerung an meine Eltern dazu. Und an  die Weihnachtsfeste meiner Kinderzeit, die sich mir tief eingeprägt haben. Ich merke, dass es bei anderen Menschen ganz genauso ist. Jeder will zu Heiligabend nach Hause, zu den Menschen, die ihn etwas angehen.

Warum ist das so?

 Kluge: Das ist nicht irgendein Massentrieb. Das gibt es seit 2 000 Jahren. Zwanzig Jahre nach dem Tod von Jesus fängt es an, dass man die Geburt des Herrn feiert. Und ich glaube, dass das Fest in Wirklichkeit noch viel älter ist. Man sagt, dass  die im Sommer gefeierte Johannisnacht ursprünglich das große Fest war. Die heidnische Feier ist umgedreht worden zu diesem winterlichen Gegenpol im Dezember. Im dunkelsten Teil des Jahres sind Millionen Kerzen im Gange und Beleuchtungen, die von innen her leuchten, das ist etwas Eigenartiges. Das ist die Transformation, aus der Weihnachten besteht: Man blickt nach innen. Man sieht ins eigene Herz.

Um was zu finden?

Kluge: Sich selbst.

In Ihrer Geschichte „Weihnachten als rächende Gewalt“ berichten Sie von einer Naturkatastrophe: von einer Schlammflut, die in den Tagen vor Weihnachten eine südamerikanische Küste heimsucht.

Kluge: Eine unheimliche Geschichte.

Die aber zeigt, dass inmitten der Zerstörung schon sehr bald wieder die Weihnachtsembleme  sichtbar werden:   Tannengrün und Lametta.

Kluge: Ja, aber in diesem Fall nicht trostreich. Eine Schlammwelle ist schlimmer als eine Überschwemmung oder ein Tsunami. Im Wasser könnte ich noch schwimmen, aber eine Schlammflut ist wie ein Moor. Das ist eine furchtbare Pranke der Natur. Als Gottesstrafe wäre sie fürchterlicher als die Sintflut.

Trotzdem zeigen in dieser Geschichte die Menschen die Zeichen der Weihnacht. Und der Erzähler fragt: Woher und  wohin führen die Trampelpfade der Gefühle?

Kluge: (lacht) Die führen überall hin. Das Bild  mit den Trampelpfaden kenne ich aus der Zeit,  als meine Heimatstadt Halberstadt von Bomben zerstört war. Die Menschen liefen auf neuen Pfaden über die Trümmer hinweg und bekamen die Stadt so nach kurzer Zeit wieder lebendig. So ist es auch in den Gefühlen, so ist es auch in  der Gesellschaft. Überall bahnen sich die Menschen ihre Wege. Auch dort, wo die Welt asphaltiert ist. Die Menschen haben ihre eigenen Wege. Diese eigenen Wege sind die Trampelpfade des Gefühls.

Herr Kluge, Sie wurden 1932 im Vorharz geboren, wo Sie aufwuchsen. Gibt es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Ihrer Halberstädter Herkunft und Ihrem Beruf als Schriftsteller und Filmemacher?

Kluge: Den gibt es gewiss. Mit den ersten Erfahrungen, die uns prägen, vermessen wir die Welt. Und diese Erfahrungen sind für mich die Erfahrungen meiner Heimatstadt Halberstadt. Da sind die ersten Geschichten, die mir abends mein Kindermädchen Magda Bügelsack erzählte. Da ist die Halberstädter Erzählweise, da ist das Mitteldeutsch. Das sind Prägungen, die sich nicht ändern. Sie hören auch noch einen Rest Halberstadt in meiner Stimme.

Mitteldeutsch ist Ihre Sprache, das Halberstädtische die Grammatik?

Kluge: (lacht) Viele sagen, ich schreibe nicht ganz grammatisch korrekt, sondern ein ganz klein bisschen in der Art, wie man in Halberstadt spricht.

Zum Beispiel?

Kluge: Eine Frau vor dem Schaufenster sagt zu ihrem Kind: „Die Schuhe sind für die, die passen die.“ Das ist die Halberstädter Art, mit Grammatik umzugehen. Diese Art, erst zu fühlen, dann zu sprechen, die ist Mitteldeutsch.

Die Mitteldeutschen sind Gefühlsmenschen?

Kluge: Sie haben ihre Eigenheiten.

Was hat Sie zu einem Schriftsteller gemacht?

Kluge: Das hat mit meinem Vater zu tun, mit der Form, in der er mir Geschichten erzählt hat. Mein Vater, der ja auch ein Buch geschrieben hat über den Ersten Weltkrieg,  war ein großer Erzähler. Überhaupt sind die Menschen in meinem Harzvorland, wo ich herkomme, geborene Erzähler. Wenn Sie dort eine Runde  an der Theke haben, beginnt die  zu erzählen. Das Narrative ist da angeboren. Das hat schon Till Eulenspiegel auf seinem Besuch in Halberstadt bemerkt.

Sie haben 1945 Halberstadt erst in Richtung Berlin, später nach Westen verlassen. Von Osten her gefragt: Besitzen Sie eine ostdeutsche Identität?

Kluge: Man verliert seine Identität aus der Kinderzeit ja nicht. Mein Vater hat bis 1979 als Arzt in Halberstadt gelebt und gearbeitet, ich habe ihn immer besucht. Insofern liegt meine Heimat in Mitteldeutschland, nicht in Ostdeutschland. Ihre Zeitung heißt ja auch Mitteldeutsche und nicht Ostdeutsche Zeitung. Es geht mir nicht um die Himmelsrichtung, es geht um die Mitte. Unser erster römischer Kaiser deutscher Nation, Heinrich I.,  saß in Quedlinburg, als er gewählt wurde. In Mitteldeutschland: Das ist ein zentrales Land. Und dahin gehöre ich, egal, wer das Land gerade beherrscht oder verwaltet.

Was heute als Osten gilt, war einmal DDR. Im nächsten Jahr wird an 25 Jahre Mauerfall erinnert. Sie haben einmal gesagt, „die wahre Geschichte“ der DDR sei noch nicht geschrieben. Was meinen Sie damit?

Kluge: Es gibt ja verschiedene Geschichten, die man beobachten kann. Sie können die Geschichte eines Staates betrachten, seiner Organisationen. Oder sie können die Geschichten der arbeitenden Menschen erzählen. Wenn sie das tun, erscheint die DDR auf einmal als etwas sehr Elementares. Wenn Sie die Mühe betrachten, die sich Menschen gegeben haben von 1945 bis 1989, erscheint eine alternative DDR. Ich denke daran, wie nach 1949 in einem kalten Winter im Kreiskrankenhaus Halberstadt die Heizungen ausfielen: Aus dem Reichsbahnausbesserungswerk wurde eine Lokomotive herangefahren, deren Dampfmaschine die Krankenanstalt heizte: gelungene Improvisation.

Oder nehmen Sie den  berühmten Winter von 1978 auf 1979: Alle setzen sich füreinander ein und werden mit einem eisigen und sehr östlichen Winter fertig. Das sind die Leistungen. Man muss Respekt haben vor so vielen Jahren des persönlichen Einsatzes und Lebens, das ja in Wirklichkeit ein Land ausmacht und das unabhängig ist vom Regime.

Eine Geschichte des Widerstehens.

Kluge: Ja. Gegen die vielen Zufälle und Unfälle, die das Leben schwer machen. Immer gab es Pannen, die behoben werden mussten.  Die Fähigkeit, etwas reparieren zu können, besaßen ganze Generationen in der DDR. Dafür wird auf dem Weltmarkt nicht bezahlt. Das finde ich schade. Es gibt  nirgendwo so schöne Altautos der 40er und 50er Jahre wie in Kuba, die von Handwerkern repariert dort herumfahren und in unserer Welt verschwunden sind. Das ist eine Seite der Welt, die nicht dem Markt entspricht, aber sie spiegelt die menschliche Arbeitskraft. Das ist eine Geschichte, vor der ich Achtung habe, und die noch nicht geschrieben ist.

Jedenfalls nicht offiziell.

Kluge:  Politisch wird das, was in den Gebieten der ostdeutschen Länder  zwischen 1945 und 1989 geschah, unzureichend dargestellt, das kann man wirklich sagen.  Günter Gaus,  der frühere Vertreter der BRD in der DDR,  hat mir einmal gesagt, er hätte sich gewünscht, dass man  die DDR im handlungsreichen Dezember 1989 als ein wirklich freies und unabhängiges Land gleich Brüssel unterstellt hätte. Als eine zweite deutsche Schweiz, dann wäre das durchaus ein patriotisches Land geworden.

Wäre es lebensfähig gewesen?

Kluge: Absolut. Unter der Hut von Brüssel, als Lieblingsgelände der Beamten dort, das hätte schon gedeihen können. Das ist utopisch, verstehen Sie. Jeder drängte ja zur Westmark. Aber es gab besonnene Leute, die damals gesagt haben, wir wollen hier doch etwas Eigenes machen. Wir wollen aus der bitteren Erfahrung, die wir erlebt haben, etwas Neues, Positives entwickeln, das nicht aussieht, wie das Spiegelbild von Westdeutschland. Ich zitiere hier nur eine These von Günter Gaus. Es ist aber eine, die man  durchaus denken kann.

Herr Kluge, das Gleimhaus in Halberstadt gehört zu den schönsten überkommenen Dichterhäusern des 18. Jahrhunderts. Zur  Zeit zeigt es eine Schau zu Ihrem Werk und Leben. Was bedeutet Ihnen ein Mann wie der Lessing-Zeitgenosse  Gleim?

Kluge: Gleim ist ein Aufklärer. Er hat Verbindungen geknüpft, gewissermaßen eine Öffentlichkeit gestiftet wie kaum ein anderer. Er war nicht so egozentrisch wie die meisten Dichter der Sturm- und Drang-Zeit, die nur ihre eigenen Texte verstanden. Ich denke bei Gleim immer an jemanden  wie Hans Werner Richter, den Chef der Schriftstellervereinigung „Gruppe 47“.  Richter hat selbst nicht so furchtbar viel geschrieben, aber er hat der Literatur einen Ort gegeben, in der sie 24 Jahre lang ihr Zentrum hatte.

Dieses Zentrum fehlt heute. So ähnlich muss man den Dom-Sekretär Gleim betrachten und  achten. Es gehört die Kommunikation, die Verbindung unter den schöpferischen Kräften genauso zur Aufklärung wie das Verfassen von Texten.

Eine Gruppe 1763.

Kluge: Wie kommen Sie darauf?

Das Ende des Siebenjährigen Krieges.

Kluge: Ja, das Ende des Krieges, das war schon ein ganz besonderes Lebensgefühl. Als Gleim  1719 geboren wurde,  gab es noch so eine Art Wehrpass, den jeder  Säugling erhalten hat. Da stand drin, wann  er später Soldat wird, wann er eingezogen wird, wann er wieder heimkommt. Das Leben vollzog sich nach militaristischen Gesichtspunkten. 1793, da haben Sie recht, atmete man auf. Ein langer Krieg war zu Ende gegangen. Mathias Claudius, mit dem Gleim in enger Verbindung stand, schrieb darüber: „’s leider Krieg – und ich begehre/ Nicht Schuld daran zu sein“.

Im nächsten Jahr jährt sich der Kriegsausbruch von 1914 zum 100. Mal. Alle glaubten damals, man sei Weihnachten wieder zu Hause. Weihnachten 1945, sehr kalt und arm an Nahrungsmitteln, spüre ich noch in den Knochen. Am  zweiten Weihnachtsfeiertag vor neun Jahren: der Tsunami im Indischen Ozean. Ich empfinde ein Weihnachten, wenn ich auf meine Kinder blicke, als ein Geschenk, wenn es ein friedliches, unfallfreies Fest ist.