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Inge Jens Inge Jens: «Ich bin ein dialogischer Mensch»

Von CHRISTIAN EGER 23.12.2009, 18:36

TÜBINGEN/MZ. - So gleicht das Wohnzimmer in der Tübinger Sonnenstraße einer Studierstube. Mit bürgerlichem Charme: die Porträts von Fontane und Thomas Mann hängen an der Wand, Orchideen stehen in Reihe auf einem Beistellschrank.

Das Jahr 2009 war ein besonderes Jahr für Inge Jens. Die promovierte Germanistin, die es als Herausgeberin der Tagebücher von Thomas Mann zu Ehren, als Autorin von Biografien über Manns Ehefrau Katja und deren Mutter Hedwig Pringsheim zu Bestsellerruhm brachte, hat ihre eigenen "Unvollständigen Erinnerungen" veröffentlicht. Ein unsentimentales, mit sinnfälliger Genauigkeit sprechendes Buch, das das Leben einer Frau zeigt, die vor allem als die Frau an der Seite von Walter Jens wahrgenommen wurde. Als Partnerin des 2003 an Demenz erkrankten Rhetorikprofessors und Schriftstellers, der zu den prägenden Geistern der Bundesrepublik gehörte.

An diesem Dezemberabend ist Walter Jens außer Haus. Wie bitte? Der 87-Jährige sei Gast einer Hochzeit im Kreis seiner Pflegerin Margit Hespeler, einer Bäuerin von Ende 40. Auf dem Hof der Familie Hespeler verbringt der Kranke den Großteil seiner Tage, von Menschen und Tieren umringt, das hohe Alter in der äußeren Gestalt einer zweiten Kindheit. Man hat es Inge Jens auch übel genommen, dass sie sehr offen über die Krankheit ihres Mannes spricht, darüber, dass er gewindelt werden muss, dass er sich freut, wenn ihm von der Theke eines Supermarktes her ein Brötchen mit Leberkäse geschenkt wird. Das letzte Kapitel ihres Buches widmete Inge Jens dem Alltag mit der Krankheit. Im Frühjahr veröffentlichte der Sohn Tilman ein so sehr les- wie streitbares Buch über seinen Vater.

Soll denn die Familie Jens eine veröffentlichte Familie werden? Ach, sagt Inge Jens, "die öffentliche Meinung über unsere Familie interessiert mich nicht so fürchterlich. Und mit dem Buch meines Sohnes bin ich, bis auf Weniges, sehr einverstanden." Sie habe keine andere Wahl gehabt, als die, die Krankheit ihres Mannes öffentlich zu machen. "Das habe ich zum Selbstschutz getan." Die Anfragen an ihren Mann liefen doch immer weiter. "Das wurde zum Problem."

Was tun? "Jedem einzeln antworten? Nein. Ich entschied mich für den Rundumschlag." Nicht nur in eigener Sache. "Die Demenz ist mit Macht ein gesellschaftliches Problem geworden." Ein Zivilisationsproblem? "Es ist einfach eine Krankheit, die sichtbarer wird, weil die Leute älter werden." Inge Jens will die Mitbetroffenen stärken: "Diese Krankheit ist mit keiner Schuldzuweisung verbunden."

Eine schlanke, große Frau ist die Mutter von zwei erwachsenen Söhnen: graues Sakko, graue Hose, weißer Rollkragenpullover. Sie reicht Tee und Kandiszucker, mit Rum getränkt. Sie selbst kippt Himbeergeist in ihren Tee: "Das befeuert die Lebensgeister". Wir sitzen in der Bibliothek des Hauses, um über ihr Lebensbuch zu sprechen. Mehr als 40 Lesungen hat sie in diesem Jahr absolviert. Das Schreiben, sagt sie, habe ihr die Möglichkeit geboten, Rechenschaft über sich selbst abzulegen.

22 war die Chemiker-Tochter Inge Puttfarcken, als sie Walter Jens kennenlernte, geboren in Hamburg wie sie selbst. Ein geistiger Partner kann er heute nicht mehr sein. So sprach Inge Jens mit sich selbst, in dem sie schrieb: "Ich bin ein sehr dialogischer Mensch." Schreiben, auch um der Traurigkeit mit Erinnerungen zu begegnen? Ja, so habe sie gesehen, wie viel Glück sie doch gehabt hat. Selbstverständlich bemerke sie nun auch, wie vieles fehle in ihrem Buch. "Aber ich will das nicht nachliefern. Mir reicht es aus." Was von überindividuellem Interesse ist, sei gesagt. Das sind nicht allein die Begegnungen mit Katja Mann, dem Verleger Ernst Rowohlt, dem Philosophen Ernst Bloch, dem Germanisten Hans Mayer. Das sind auch die Erinnerungen an ihre Kindheit im NS-Staat. Erstaunlich ist ihr Befund, dass sie "weder Drill noch Versuche, uns zu guten Nationalsozialisten zu machen", erfahren habe. Das Ideologische nahm die Jungmädelführerin mehr hin als an. Inge Jens fragt sich: Was wusste ich, was hätte ich wissen können? Habe ich mich schuldig gemacht?

"Ich habe diese Frage an mich herangelassen", sagt sie, "beantworten kann ich sie nicht." Nur 50 Juden habe es in ihrem Hamburger Stadtteil gegeben, weiß sie heute; damals war ihr das unbekannt. Als Zehnjährige begrüßte sie Hitler in Hamburg, ihr Schulaufsatz darüber ist in ihrem Buch zu finden. Was diese Begegnung über den Fakt hinaus bedeute? Nicht viel, sagt sie. Aber nichts könne die damalige Situation besser schildern als dieses Dokument. Die Kollektivschuldthese sei ihr stets fremd gewesen.

Das am Mittwoch über seine Schriftzeugnisse zu erschließen, darin fand Inge Jens ihre Aufgabe. Um "Zeugnisse exponiert gelebter Leben" geht es ihr. Die Tagebücher Thomas Manns waren ein Musterfall in dieser Hinsicht. "Die Anstrengung, die individuelle Biografie und die Historie seines Volkes zusammenzuführen, das hat mich interessiert." Demnächst wolle sie die Briefe zwischen Klaus und Heinrich Mann herausgeben.

Ob sie ein gläubiger Mensch sei? Nein, sagt Inge Jens, aber ich bin auf den Gedanken der Gnade angewiesen. Die Philosophie um den Gekreuzigten zu teilen, falle ihr schwer; sie könne die Folterung eines Menschen nicht als Erlösung begreifen. Was sie mit dem Christentum verbinde sei die Friedensmission. Auch das Weihnachtsfest: "Geburt eines göttlichen Kindes - diese Botschaft anzunehmen, fällt mir leicht. Jede Geburt ist ein Gotteswunder." Was das erfordere: ein glückliches Leben? "Die Fähigkeit, eigene Wünsche und soziale Anforderungen nicht als sich im Raume stoßend zu begreifen, sondern als zwei Seiten einer Medaille."

Gemeinsam mit Margit Hespeler ist Walter Jens ins Haus heimgekehrt. Im Wohnzimmer sitzt er im roten Sessel: Jeans, graue Strickjacke, das weiße Haar kurz geschnitten. Sehr freundlich wirkt er, antwortet in losen Worten, spürt die Nähe der Menschen um ihn herum.

Donnerstagabend werden Inge und Walter Jens den Gottesdienst in der Tübinger Stiftskirche besuchen. Ja, Metaphysik sei das, absolut, sagt Inge Jens: die Kirche, die Lichter. Dann denke sie daran, wie nach dem 30-jährigen Krieg 1648 die Friedenskuriere in die Stadt einritten und die Bürger den Dankgottesdienst feierten - und sie denke an ihre erste Friedensweihnacht 1945. Zu erleben, wie die Jahrhunderte in einem Moment zusammenfließen, sagt Inge Jens, auch das sei für sie Weihnachten.

Inge Jens: Unvollständige Erinnerungen. Rowohlt Verlag, 317 Seiten, 19,90 Euro