1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Ibrahim Böhme: Ibrahim Böhme: Wie der SPD-Vorsitzende in der DDR über seine Stasi-Vergangenheit fiel

Ibrahim Böhme Ibrahim Böhme: Wie der SPD-Vorsitzende in der DDR über seine Stasi-Vergangenheit fiel

Von Kai Agthe 13.01.2020, 10:00
Die SPD-Mitglieder Markus Meckel und Ibrahim Böhme (rechts), erster Vorsitzender der SPD der DDR, sitzen im Januar 1990 bei Gesprächen am Runden Tisch in Ost-Berlin. Wenige Wochen später wurde bekannt, dass Böhme jahrelang als Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit tätig war.
Die SPD-Mitglieder Markus Meckel und Ibrahim Böhme (rechts), erster Vorsitzender der SPD der DDR, sitzen im Januar 1990 bei Gesprächen am Runden Tisch in Ost-Berlin. Wenige Wochen später wurde bekannt, dass Böhme jahrelang als Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit tätig war. dpa

Halle (Saale) - Tatjana Böhme-Mehner fühlte sich an das Märchen vom süßen Brei erinnert, als in den 90er Jahren ihr Faxgerät ein Bandwurm-Testament ihres Vaters ausspie. „Die dort verschiedentlich erwähnten Ländereien meiner Ahnen habe ich bis heute nicht gefunden … Die Ahnen auch nicht“, schreibt sie in ihrem Buch „Warten auf den Vater - Erinnerungen an Ibrahim Böhme“ (Hier bei Amazon kaufen).

Ibrahim Böhme: SPD-Vorsitzender in der DDR starb 1999

Ihr Vater, der eigentlich Manfred Böhme hieß und es mit der Wahrheit auch in seinem Testament nicht so genau nahm, starb 1999 einsam im mecklenburgischen Neustrelitz. Zehn Jahre zuvor hatte der Mitbegründer der SPD in der DDR, deren Vorsitzender er von Februar bis März 1990 war, bei den ersten freien DDR-Wahlen als Lichtgestalt gegolten: Als SPD-Spitzenkandidat war er im März 1990 mit dem Vorsatz angetreten, DDR-Ministerpräsident werden zu wollen.

Kurz nachdem die „Allianz für Deutschland“ - bestehend aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch - einen erdrutschartigen Wahlsieg eingefahren hatte, waren für Böhme spätestens im April 1990 alle Messen gesungen, als bekannt geworden war, dass er unter anderem unter den Decknamen „August Drempker“ und „Paul Bonkarz“, beginnend in den späten 60er Jahren, als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit Spitzeldienste geleistet hatte.

Ibrahim Böhme: Bis zum Tod die IM-Tätigkeit geleugnet

Obwohl die Aktenlage erdrückend war, hat Böhme bis zu seinem Tod mit 55 Jahren geleugnet, als IM tätig gewesen zu sein. Selbst als ihm Tonbandaufzeichnungen mit seinen Berichten vorgespielt wurden, sagte Böhme: „Ja, das ist meine Stimme, aber das habe ich nicht gesagt.“ Was Böhme als IM aber doch sagte, dokumentierte etwa der 1977 aus der DDR ausgereiste Dichter Reiner Kunze (86), auf den Böhme während seiner Zeit im thüringischen Greiz angesetzt war. Kunze legte Ende 1990 das Buch „Deckname ,Lyrik‘“ vor, das Auszüge aus den 12 Bände umfassenden Operativen Vorgang enthielt, den die Stasi über Kunze wegen angeblicher „staatsfeindlicher Hetze“ angelegt hatte. Die Ordner füllen halfen auch die Herren Drempker und Bonkarz.

Ende 1990 - da war Böhme schon lange abgetaucht. Erst lebte er zurückgezogen im Prenzlauer Berg in Berlin, zuletzt dann in Neustrelitz, wo er, nach dem Ende seiner Greizer IM-Jahre, von 1978 bis 1982 die Öffentlichkeitsarbeit des Theaters betreut hatte. Nach Mecklenburg kam Böhme auf Anordnung der Stasi, um ihn in Thüringen, wo sich Ende der 70er Jahren herumgesprochen hatte, dass er MfS-Zuträger sei, aus dem Schussfeld zu nehmen.

Ibrahim Böhme: Tochter bringt mit ihrem Buch Licht ins Dunkel

Über die politische Person ist in den vergangenen drei Jahrzehnten einiges geschrieben worden. Der Privatmensch Böhme, der mit persönlichen Angaben geizte oder falsche Fährten legte, blieb unterbelichtet. Nun bringt Böhmes Tochter Tatjana mit ihrem Buch Licht ins Dunkel.

Die 1976 geborene Musikwissenschaftlerin und Journalistin erinnert sich an ihren Vater als einen, der nicht da war und der, wenn er sich ankündigte, meist zu spät oder gar nicht kam oder früher wieder abreiste als ausgemacht war. Wenn Böhme aber sie und ihre Mutter besuchte, dann liebte er, ähnlich wie die öffentliche Person, den großen, gern auch bühnenreifen Auftritt.

„Als erzieherische Autorität fällt mein Vater nicht ins Gewicht“

Doch wenn er länger blieb, war mit ihm nicht viel anzufangen, da Böhme bis in den Vormittag hinein schlief, anstatt die von seiner Familie als kostbar empfundenen Stunden mit Frau und Tochter zu nutzen. „Als erzieherische Autorität fällt mein Vater nicht ins Gewicht“, so Böhme-Mehner.

Nur einmal habe Böhme seine Tochter von der Schule abgeholt. Da er sich im thüringischen Triptis, wo Tatjana mit ihrer Mutter lebte, nicht auskannte, stellten Vater und Tochter nicht nur den Rekord für den längsten Heimweg auf, sondern auf diesem schlenkerte Böhme den Ranzen der Kleinen derart, dass die in der Tasche mühsam hergestellte Ordnung durcheinander geriet. Das ist ein Gleichnis für die Anwesenheit ihres Vaters überhaupt: Er brachte den Alltag durcheinander statt ihn zu ordnen.

Auf lebensgefährdete Weise galt das auch für jene Menschen, die Böhme bespitzelte. Zu diesen gehörte in Greiz neben Reiner Kunze der ebenso redliche Lyriker Günter Ullmann (1946-2009), den das Mielke-Ministerium in den Wahnsinn treiben wollte: Aus Angst, dass ihm der DDR-Geheimdienst Mikrofone eingesetzt haben könnte, ließ Ullmann sich eines Tages alle Zähne ziehen. Und auf dem Höhepunkt der Stasi-Zersetzung fuhr er nach Berlin, um dort nach dem jüdischen König Salomo zu suchen.

Ibrahim Böhme war auf Bürgerrechtler angesetzt

Apropos: Böhme selbst dichtete sich eine jüdische Herkunft an, weshalb er sich Ibrahim nannte, obwohl das, wie Böhme-Mehner betont, nicht gerade der Inbegriff des jüdischen Vornamens ist. Mal behauptete er, in Russland geboren zu sein, mal, in Frankreich das Licht der Welt erblickt zu haben. Er kam vielmehr 1944 in Bad Dürrenberg auf die Welt, wuchs in Heimen und in einer Pflegefamilie auf und lernte später Maurer in den Leuna-Werken.

Dort übernahm er bald auch Lehraufgaben, ehe er Ende der 60er Jahre nach Greiz ging, wo er neben seiner offiziellen Tätigkeit etwa als Kulturhausleiter inoffiziell der Stasi zu Diensten war. Von Thüringen ging es für Böhme nach Mecklenburg und von dort 1986 nach Berlin, wo der Spitzel den Stasi-Ritterschlag erhielt, als er beauftragt wurde, Bürgerrechtler auszuspähen. Der IMB - der Inoffizielle Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung - gehörte alsbald zum Kreis der „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ und im Oktober 1989 auch zu den SPD-Gründern.

„Manche haben meinen Vater mit einer der düsteren und zwielichtigen Figuren aus den Romanen Dostojewskis verglichen ... Mein Vater hat Dostojewski geliebt“, so Tatjana Böhme, die ihn in ihrem Buch auch den „Cowboy mit der Reisetasche“ nennt. (mz)

Tatjana Böhme-Mehner: „Warten auf den Vater - Erinnerungen an Ibrahim Böhme“, Europa Verlag, 206 S., 18 Euro (Hier bei Amazon kaufen)