Helga Paris Helga Paris: DDR-Fotografien ohne Sentimentalität
Leipzig/MZ. - Ein Schmetterling aus Papier. Zwei Zeichnungen von Kinderhand. Ein Foto von Marilyn Monroe, 1962 aufgenommen von Bert Stern. Drei Bände der von 1971 an im Verlag Volk & Welt veröffentlichten "Ausgewählten Werke" von Karl Kraus. Strandgut des Alltags. Dinge, in denen Lebenszeit steckt. Dinge, die ihrerseits wie aus der Zeit gefallen scheinen - am Aufsatz eines Toilettentisches versammelt. In dessen Spiegel ist eine junge, unsentimental blickende Frau zu sehen: Helga Paris, 33 Jahre alt, ein Selbstporträt aus dem Jahr 1971, aufgenommen in Ostberlin.
Ein Stillleben mit Dame. Es ist nicht das einzige Spiegelbild, das in der Leipziger Ausstellung "Helga Paris. Fotografie" zu sehen ist. Auch "Sabine mit Baby, 1986" findet ihr Gegenbild im Spiegelglas. So wie das Pferd aus der "Siebenbürgen"-Serie von 1980 sich in einer großen Pfütze verdoppelt. Auch dort, wo gar keine Spiegelung stattfindet, haben viele Bilder der seit 1956 in Berlin lebenden Fotografin etwas Spiegelbildliches.
Heraus aus der Umgebung
Und das nicht allein in der von 1981 bis 1989 hergestellten Serie von Selbstporträts, in denen Helga Paris einmal im Jahr in die Kamera blickte. Die zeigt die Künstlerin als alleinerziehende Mutter in der arbeitsreichsten Phase ihres Lebens, im Alter von 43 bis 51. Ein Gesicht, das mal jünger, mal älter aussieht. Porträts wie im Spiegel. Ernst und auf Abstand: So, wie die Fotografin zu sich selbst.
Die erlebbar gemachte Entfernung: Das ist das Spiegelbildliche. Das Herausrücken aus der Umwelt, aus den eingeredeten Selbstverständlichkeiten. Helga Paris sucht die Distanz. Sie stellt jeweils Abstand zu ihrem Gegenüber her, die aber keine kalte und niemals eine kommentierende Distanz ist. Deshalb sind die DDR-Fotografien der Helga Paris weder sentimental noch propagandistisch. Die Menschen, die sie zeigt, treten aus ihrer zufälligen Umgebung heraus, um als Eigenständige sichtbar zu werden. Das hat etwas unangestrengt Ernsthaftes und angenehm Diskretes. Helga Paris zeigt die Menschen als Souveräne ihres Lebens.
Man wird das in dieser Fülle so schnell nicht wieder zu sehen bekommen: Insgesamt 133 Schwarz-Weiß-Fotografien aus fast 30 Jahren zeigt das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) in der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig. Eine der bislang umfangreichsten Ausstellungen überhaupt aus dem Werk der Fotografin, die aus keiner Künstlerschule stammt und die ihrerseits kaum Schule gemacht hat. Die zu den bedeutendsten Fotografinnen der Gegenwart gehört, deren Werk mit den Serien über die Stadt Halle (1983-1985), Berliner Jugendliche (1981-1982) und "Frauen im Bekleidungswerk VEB Treffmodelle Berlin" (1984) schon legendäre Züge angenommen hat.
Jedenfalls soll sich Ende der 80er Jahre das zugetragen haben: In einer Kneipe in Berlin-Prenzlauer Berg stellten Arbeiter lautstark die Frage, wer denn die berühmteste Fotografin der Stadt sei. Die Antwort lieferten sie gleich triumphierend mit: "Helga Paris". Hier sprachen jene Berliner Müllfahrer, die Helga Paris 1974 fotografiert hatte.
Keine Frau, die von Anfang an Künstlerin werden wollte. Geboren 1938 als jüngstes von vier Kindern im pommerschen Gollnow, heute Goleniów, flieht sie 1945 mit ihrer Familie ins brandenburgische Zossen, die Heimat der Mutter. Der Vater, ein Kommunist, wird zwei Tage nach seiner Heimkehr aus dem Krieg ohne gültige Papiere von einer russischen Miltärstreife aufgegriffen und in ein Lager verschleppt, aus dem er nie mehr zurückkehrt. Die Tochter studiert 1956 bis 1960 Modegestaltung an der Ingenieurschule für Bekleidungsindustrie Berlin und heiratet 1961 den Maler Ronald Paris, der an der Mode-Schule Kunst unterrichtete; die Ehe hält bis 1975. Helga Paris arbeitet als Gebrauchsgrafikerin und Dozentin für Kostümkunde. Bis zur Geburt des ersten Kindes, des Sohnes Robert. Plötzlich beginnt sie zu fotografieren.
Jedem Menschen ein Auftritt
Dass Helga Paris ihre ersten Kunsterfahrungen mit der Malerei und im Theater machte, ist ihren Fotografien eingeschrieben. Den Menschen, die sie zeigt, bietet sie Auftritte. Die Situationen haben einen klar definierten Vorder- und Hintergrund, immer eine räumliche, sozusagen szenische Tiefe. Dabei verzichtet sie auf poetische Attribute, wie sie in der DDR gern gepflegt wurden, oder auf forsche Reportergesten. Helga Paris ist keine Dokumentarfotografin. Sachlich ist sie, in dem sie ganz bei der Sache ist. Was heißt: in einer Stadt, einer Landschaft, bei den Menschen.
Sie zeigt das Ostberlin der 70er Jahre: eine Stadt, die mit ihren Bewohnern verschwunden ist, die Helga Paris noch zeigt. Das gleiche gilt für die Halle-Serie, die man gerne einmal ohne "Diva in Grau"-Etikett und frei von Texten in einem Bildband sehen würde. Immer wieder Menschen: in Siebenbürgen, Georgien, Polen und Rom, wo sie 1995 junge Männer am Bahnhof Rom Termini fotografierte.
Längst ikonentaugliche Aufnahmen hält das Werk von Helga Paris bereit: die Frau mit hochgehaltener Feder aus der Halle-Serie (1983) oder die Kinder mit Tiermasken (1968). Bilder, die zu nichts überreden wollen. Die anzusehen man nicht satt wird. Denen schon jetzt etwas Klassisches eignet: Was sie zeigen, ist niemals auserzählt.
Leipzig, Galerie für zeitgenössische Kunst: bis 27. Januar. Tauchnitz-Straße 9-11, Di-Fr 14-19, Sa-So 12-18 Uhr. Jeden Mittwoch freier Eintritt.