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Heinrich Scholl aus Ludwigsfelde Heinrich Scholl aus Ludwigsfelde: Eiskalter Mörder oder Opfer der Justiz?

Von anja reich 08.04.2014, 11:59
Heinrich Scholl, Ex-Bürgermeister von Ludwigsfelde, inzwischen rechtskräftig verurteilter Mörder. Seine Revision wurde verworfen.
Heinrich Scholl, Ex-Bürgermeister von Ludwigsfelde, inzwischen rechtskräftig verurteilter Mörder. Seine Revision wurde verworfen. paulus Ponizak Lizenz

Ludwigsfelde/Brandenburg/MZ - Die Fahrt zu Heinrich Scholl ist wie eine Reise ans Ende der Welt. Man durchquert verlassene Dörfer, fährt über breite Magistralen an Industrieruinen vorbei, und irgendwann, wenn man die Stadt Brandenburg an der Havel schon fast wieder verlassen hat, biegt man in eine Seitenstraße, stellt das Auto auf einen Parkplatz, läuft an der Endhaltestelle einer Straßenbahn, einem verlassenen DDR-Klubhaus und einem Panzer der Sowjetarmee vorbei, bis man eine Betonfestung erreicht, die von hohen Mauern und Stacheldraht umgeben ist.

Heinrich Scholl, 71 Jahre alt, erfolgreichster Bürgermeister der neuen Länder, Mitbegründer der ostdeutschen Sozialdemokratie, der Mann, der Gerhard Schröder und Angela Merkel kannte und Prinz Charles in seine Heimatstadt holte, sitzt in einer Ecke im Besucherraum, vor sich eine Tafel Ritter Sport, die vom vorherigen Besuch übrig geblieben ist. Ein alter Freund war gerade da. Jetzt sollte eine Bekannte aus Berlin kommen. Aber die hat es sich offenbar anders überlegt. „Es kommen nicht mehr viele“, sagt Heinrich Scholl.

Kaltblütiger Mord nach 47 Jahren Ehe

Es ist ein Tag Ende Mai, zwei Wochen, nachdem er wegen heimtückischen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Das Potsdamer Landgericht war überzeugt, dass Scholl seine Frau Brigitte einen Tag nach ihrem 47. Hochzeitstag im Wald von Ludwigsfelde kaltblütig erdrosselt und anschließend ihren Hund umgebracht hat. Scholls Anwälte sind sofort in Revision gegangen. Seine Stimmung hebt das nicht. Wenige Tage nach dem Urteil kam ein Brief von der SPD: „Sofortmaßnahme gegen Heinrich Scholl“. Der Vorstand seiner Partei teilte ihm mit, dass ein Parteiordnungsverfahren eingeleitet worden sei, da es zu einer „schweren Beeinträchtigung der politischen Stellung der Partei und ihrer Glaubwürdigkeit“ gekommen sei. „Schnelles Eingreifen“ sei erforderlich.

Die Partei, die er in Brandenburg selbst einmal mit gegründet hatte, schämte sich für ihn. Das traf ihn fast genauso wie das Urteil des Richters. Erst vor zwei Tagen konnte sich Heinrich Scholl zu einer Antwort aufraffen. „Sehr geehrte Damen und Herren“, schrieb er, „obwohl ich noch nicht rechtskräftig verurteilt bin, möchte ich weiteren Schaden für die Partei vermeiden und kündige hiermit meine Mitgliedschaft in der SPD mit sofortiger Wirkung.“

Es war ironisch gemeint, aber nachdem er den Brief abgeschickt hatte, merkte er, dass es sich eher wie ein Schuldeingeständnis anhörte. Ironie ist im Moment nicht Heinrich Scholls Stärke. Er schwankt zwischen Verzweiflung, Selbstmitleid und Kampfgeist. Lange vor Prozessbeginn hat ihn sein Sohn das letzte Mal im Gefängnis besucht. Er schreibt ihm auch nicht mehr oder ruft an. Er hält seinen Vater für den Täter.

Heinrich Scholl schüttelt den Kopf, verständnislos, enttäuscht und zählt all die Vorwürfe auf, die ihm sein Sohn im Prozess gemacht hat. Er kommentiert sie, korrigiert sie, kritisiert sie. Vor Gericht hat er geschwiegen. Jetzt sprudelt es nur so aus ihm heraus. Wenn ihn etwas besonders ärgert, schlägt er auf die Tischplatte. Die Polizei war voreingenommen, bumm, der Richter hat ihn weggesperrt, bumm, bumm, Zeugen haben Dinge behauptet, die nicht stimmen. Bumm, bumm, bumm.

Kondom und Viagra-Tablette in die Tasche

Wenn man Heinrich Scholl eine Weile zuhört, hat man den Eindruck, die ganze Welt habe sich gegen ihn verschworen, nicht zuletzt seine tote Frau. Nach ihrem Tod hat er ihren Schrank aufgeräumt und darin ein Sex-Spielzeug gefunden. Das erinnert ihn an die Viagratablette und das Kondom, die in der Hosentasche seiner Frau steckten, als sie im Wald gefunden wurde. Er senkt die Stimme. „Warum sollte ich meiner Frau ein Kondom und eine Viagratablette in die Tasche stecken?“

Wer war es dann?

Er zuckt mit den Schultern und sagt, er wolle niemanden beschuldigen, wenn er nicht sicher sei. „Ich weiß, wie es ist, unschuldig verurteilt zu werden.“

Es ist ein seltsamer Moment, man weiß nicht, was man sagen soll. Redet da ein eiskalter Mörder und Lügner, ein Verrückter oder ein Opfer der Justiz? Heinrich Scholl ist auch als Unschuldiger sehr überzeugend.

Man kann einen Mord verdrängen, sagen Psychologen, genau wie man andere schreckliche Dinge, die einem im Leben passieren, verdrängen kann. Andererseits muss man sich immer wieder genau daran erinnern, was man getan hat, um keinen Fehler zu machen, nichts Falsches zu sagen, sich nicht zu verraten.

Der psychiatrische Gutachter hatte im Prozess davon berichtet, wie es Heinrich Scholl gelang, Probleme zu bagatellisieren, wenn er keinen anderen Ausweg sah: die Kälte seiner Mutter in seiner Kindheit, die Ohnmacht gegenüber seiner Frau. Verdrängung war immer Teil seiner Überlebensstrategie. Worüber man auch mit ihm spricht, die Beziehung zu seinem Sohn, seine Zeit im Zirkus, seine Karriere als Bürgermeister, am Ende hat man den Eindruck, ihm ist immer alles gelungen. Geradezu unheimlich klingt es, wenn er auf einmal seine Ehe lobt. Oder Ursus, den Hund. Er erzählt, wie er ihn vermisst, obwohl Zeugen vor Gericht ausgesagt haben, dass Heinrich Scholl den Hund seiner Frau nie mochte. Auch seine thailändische Geliebte lobt er in den höchsten Tönen, als wisse er nicht mehr, wie sie ihn ausgenutzt und an den Rand des Wahnsinns getrieben hat.

Scholl redet sich sein Leben schön. Er schminkt seine momentane Lebenslage wie ein Heiratsschwindler. Auf die Briefe aus der Haft schreibt er als Absender nur seinen Namen, die Straße und die Stadt: Heinrich Scholl, Brandenburg an der Havel, Anton-Saefkow-Allee 22. Als wäre das seine Privatadresse und keine Haftanstalt mit vergitterten Fenstern.

Er liest Bücher über Unrechtsurteile der deutschen Justiz. Er sieht Fernsehsendungen über Menschen, die unschuldig im Gefängnis sitzen, und beschäftigt sich mit der sogenannten „Ring-Theorie“, nach der Richter in Indizienprozessen ihre Beweisführung ableiten. Franz Kafkas „Der Prozess“ lässt ihm keine Ruhe. Die groteske Erzählung über einen jungen Bankangestellten, der eines Morgens aus heiterem Himmel verhaftet wird und bis zu seiner Hinrichtung nicht erfährt, was ihm eigentlich vorgeworfen wird, erinnert ihn an sein eigenes Schicksal.

Als es Herbst wird in Brandenburg, ist Heinrich Scholl in das Haftleben eingesickert. Der erste, den er im Untersuchungsgefängnis kennengelernt hatte, war Axel Hilpert, ein Mann im gleichen Alter wie er, und auch eine Brandenburger Legende, gewissermaßen. Zu DDR-Zeiten war Hilpert Stasioberst und Chefeinkäufer von Antiquitäten, jetzt war er wegen schweren Betrugs, Untreue und Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit dem Bau einer Luxus-Hotelanlage zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten verurteilt worden. Hilperts Anwälte legten gegen das Urteil Revision ein.

Auch im Knast eine Führungspersönlichkeit

Axel Hilperts Zelle befand sich schräg gegenüber von Scholls in einem der frisch sanierten Gebäude der Haftanstalt. Die Gänge sind breit dort, die Küche gefliest, die Türen haben keine Gitter. Hilpert zeigte Scholl, wo die Küche war, wo man die Wäsche wechseln konnte. Die anderen Zellennachbarn waren wesentlich jünger als Scholl und Hilpert. Es handelte sich um Mitglieder der Rockergruppe Hells Angels, Muskelpakete mit Stiernacken, kahl geschorenen Schädeln und Tätowierungen am ganzen Körper. Sie machten ihre Witze über den dicken Hilpert und den kleinen Scholl und trieben ihre Spielchen mit ihnen.

Heinrich Scholl kann es kaum erwarten zu erzählen, wie sie ihm Salz in den Kaffee schütteten und er die Tasse ohne mit der Wimper zu zucken ausgetrunken hat. Als Bullet, der eigentlich Steffen heißt, zu ihm sagte: „Eh, Scholl, du wischst jetzt mal meine Zelle“, forderte er ihn auf, doch erstmal zu fegen.

Scholl lacht. Er kann sich durchsetzen, auch heute noch. Das will er mit diesen Geschichten beweisen. Er ist eine Führungspersönlichkeit, auch hier im Knast.

Neulich hat er Kay, auch einer von den Hells Angels, auf dem Hof um eine Zigarette gebeten und damit einen Streit um die Schädlichkeit des Rauchens ausgelöst, der damit endete, dass Kay auf das Regenwasser im Aschenbecher zeigte und sagte, andere tränken so was aus. Bullet fragte Kay, ob er Scholl denn eine Zigarette spendiere, wenn der die Brühe trinken würde. „Nicht nur eine, ’ne ganze Stange“, erwiderte Kay. Heinrich Scholl setzte den Aschenbecher an.

Trinken aus dem Aschenbecher

Axel Hilpert wurde im Juni aus gesundheitlichen Gründen gegen eine Kautionszahlung aus der Untersuchungshaft entlassen. Heinrich Scholl und die Rocker blieben. Sie wurden vom selben Richter wie er zu mehreren Jahren Gefängnisstrafe verurteilt und gingen genau wie er in Revision. Das verbindet. Sie nennen ihn „Scholli“. Er nennt sie „meine Jungs“.

„Eh Scholli, is’n los?“, ruft Bullet über die Tische, als der Wärter mal kurz den Besucherraum verlassen hat. „Alles klar, Bullet“, antwortet Heinrich Scholl.

Bullet ist wie ein Sohn für ihn, jetzt, da er den anderen verloren hat. Wenn Heinrich Scholl über ihn spricht, wird sein Tonfall liebevoll, fast zärtlich. Bullet wurde in erster Instanz verurteilt, einen anderen Rocker brutal zusammengeschlagen zu haben, aber Heinrich Scholl glaubt ihm, wenn er versichert, dass er das nicht war. Er staunt darüber, dass Bullet so ein guter Junge geworden ist, obwohl er so eine schwere Kindheit hatte. Heinrich Scholl weiß ja, wovon er spricht.

Bullet und seine Freunde sind seine neue Familie geworden. Sie beschützen ihn vor den anderen Häftlingen. Sie kochen für ihn. Er hilft ihnen bei Amtsschreiben. Wenn Bullet seinen schweren Arm um ihn legt und sagt: „Eh Scholli, kannste dir mal den Brief durchlesen“, ist sein Tag gerettet. Er hilft gerne, hat er ja immer, sagt er. Seine Augen werden feucht, er dreht den Kopf zur Seite.

Heinrich Scholl hat im Gefängnis wieder mit dem Malen begonnen. Ein Bild hat er mit in den Besucherraum gebracht. Ein See vor einer untergehenden Sonne, ein Paar auf einer Bank. Das Motiv ist nicht von ihm, er hat es von einer Postkarte abgemalt, wie früher, als er noch ein Junge war und nach der Schule für seine Mutter Geld verdienen musste.

Es sieht so aus, als fange Heinrich Scholl noch einmal von vorne an.

Dieser Text ist ein Auszug aus Anja Reichs Buch: Der Fall Scholl - Das tödliche Ende einer Ehe, Ullstein Extra, 208 Seiten, 14,99 Euro, Erscheinungstermin: 11. April 2014

Die Autorin Anja Reich. Sie arbeitet als Leitende Redakteurin bei der Berliner Zeitung, die wie die MZ zur Mediengruppe M. DuMont Schauberg gehört.
Die Autorin Anja Reich. Sie arbeitet als Leitende Redakteurin bei der Berliner Zeitung, die wie die MZ zur Mediengruppe M. DuMont Schauberg gehört.
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