Heiner Müller Heiner Müller: Das Phantom des Theaters

Halle (Saale)/Berlin - Ganz ohne Ehrungen ist es nicht abgegangen, aber der Nachruhm hält sich in Grenzen. In Berlin-Friedrichsfelde hat die Wohnungsgenossenschaft an dem Plattenbau, in dem Heiner Müller wohnte, schon vor 15 Jahren eine Gedenktafel anbringen lassen.
In Waren an der Müritz, wo er als Junge mit seinen Eltern lebte, gibt es seit 2015 auch eine. Und das standesgemäße Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof natürlich, wo auch Brecht, Weigel, Herzfelde und all die anderen berühmten Toten liegen.
Schock und Trauer
Müller, am 9. Januar 1929 im sächsischen Eppendorf geboren, starb am 30. Dezember 1995 in Berlin. Der Schock und die nachfolgende Trauer waren enorm. Es fühlte sich so an, als hätte die DDR nach Bertolt Brecht nun auch ihren zweiten und letzten Theaterhelden verloren.
Diese Wahrnehmung ist natürlich schief, denn erstens gab es die DDR 1995 schon seit fünf Jahren nicht mehr. Zweitens fehlt Einar Schleef in der Reihe, der Sangerhäuser von schwierigem Charakter, aber mit unbestreitbarem Titanen-Format. Und drittens sind sie sämtlich Dichter und Theatermacher von gesamtdeutscher Bedeutung gewesen, Mauer hin oder her. Und darüber hinaus - was bei Brecht niemand bestreiten wird, während man im Falle Schleefs und vor allem Müllers auch darüber noch viel zu wenig nachgedacht hat.
Überhaupt ist dieser Dramatiker und Regisseur ein Phantom. Schon zu DDR-Zeiten war er das, wo er berühmt, aber mehr verboten als aufgeführt war. Müller zu erwähnen, gehörte zum Ausweis des Ost-Intellektuellen. Ihm jemals leibhaftig begegnet zu sein, machte den, der das von sich behaupten durfte, sofort viel interessanter. Man zehrte von der Aura des düsteren Zynikers, für den viele ihn hielten - und der Heiner Müller gar nicht war.
Der Fall „IM Heiner“
Als zu Beginn der 1990er Jahre, kurz vor Müllers Krebstod, Karteiblätter auftauchten, die eine Stasi-Mitarbeit des für unberührbar und über den Dingen stehend Gehaltenen offenbarten, bekam diese landläufige Interpretation noch einen politischen Geschmack. Wie anders als eben zynisch (und natürlich enttäuschend) sollte man es finden, dass auch Müller im Klub der Zuträger gewesen war. Für einige Kollegen aus dem Feuilleton war er damit erledigt, andere verteidigten ihn.
Müller selbst hat das, was zum Vorgang „IM Heiner“ zu sagen war, offen gelegt in einem Anhang zur Taschenbuch-Neuausgabe des beachtlichen Gesprächsbandes „Krieg ohne Schlacht“ (Kiepenheuer & Witsch, 1994), der sein Leben und Arbeiten dokumentiert. Müllers öffentliche Erklärungen in dieser Sache, gar nicht wortgewandt, haben zum Teil Hohn ausgelöst - Sätze wie „Ich wollte etwas ändern“ und „Ich habe versucht, zu beraten und Einfluss zu nehmen“.
Ist das wirklich so unwahrscheinlich? Es hat Menschen gegeben, die aus solchen Motiven Mitglied der SED geworden - und enttäuscht worden sind. Denn ändern sollte sich ja nun gerade nichts im Beton-Sozialismus. Das hätte Müller freilich wissen müssen, er war schließlich nicht naiv. Dass er aber mit den Genossen des Stasiministers Mielke zum Spaß ein bisschen Katz und Maus spielen wollte, darf man für ebenso unwahrscheinlich halten wie den Verdacht, Müller hätte Kollegen anschwärzen wollen.
Tatsächlich bleibt dies aber ein dunkler Punkt in seiner Biografie - wie es die SS-Mitgliedschaft des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass ist, die er lange sehr diskret behandelt hat, aus einer Scham, für die man freilich auch Verständnis haben kann. Am Ende, nach der Enthüllung, standen in beiden Fällen Männer, die um ihre Ehre und ihren Platz in der Geschichte fürchteten. Den haben sie indes behalten.
Müller, der eher ein großer Sentimentaler als ein Zyniker gewesen ist, litt am Wissen um die Gesetzmäßigkeit, in der sich machtpolitische Verhältnisse und Missbräuche wie von selbst rekonstruieren. Und ebenso quälte ihn die menschliche Neigung, sich diesen Mechanismen nicht zuletzt aus Gründen persönlichen Vorteils zu unterwerfen.
All das steckt schon in „Philoktet“, einem frühen, nach Vorlage von Sophokles entstandenen Stück Müllers, das 1958 begonnen, 1964 vollendet, prompt verboten - und erst 1977 in der DDR erstaufgeführt worden ist.
Wer damals dabei war in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin, wird zwei Dinge wahrscheinlich nie vergessen können: Das faszinierte Staunen darüber, wie einem ein einziger, vorzüglich gespielter, freilich auch ästhetisch bis an die Grenze des Erträglichen fordernder Theaterabend die Augen öffnen kann über den Stalinismus. Und es bleibt die Verwunderung, wieso die Kulturpolizei der SED das eigentlich zugelassen hat.
Vielleicht wollten Honecker und Hager ein Jahr nach der Biermann-Ausbürgerung, die unvermutet zum Flächenbrand des Widerspruchs in Künstlerkreisen geführt hatte, ein bisschen Druck vom Kessel nehmen: Seht her, wie offen die Partei doch ist!
Autopsie der Herrschaft
Das war sie natürlich nicht. Was Alexander Lang, Christian Grashof und Roman Kaminski in Gemeinschaftsregie und -arbeit dort aufführten, war nicht weniger als die Autopsie des regierenden Herrschaftskadavers: Philoktet, für seine Treffsicherheit mit dem Bogen berühmt, war von Odysseus einst, nach des Helden Verwundung, die ihm, Odysseus, und den anderen buchstäblich in die Nase stank, auf einer unbelebten Insel ausgesetzt worden.
Nun, nach Jahren, da man einstweilen glücklos Troja belagert, entsinnt sich der trickreiche Odysseus des Alten. Gemeinsam mit dem jungen Neoptolemos, Sohn des gefallenen Achill, will er Philoktet zurückgewinnen. Der bleibt jedoch am Ende ermordet zurück - und wird noch im Tode seinen Mördern für ihre Kriegspropaganda nützlich sein müssen. „Im Bauch der Farce lauern die Tragödien“, sagt Müller.
Viel später dämmerte es einem, der man damals ganz zu Recht Stalin und seine kommunistischen Gefolgsleute am Pranger sah, wie viel weiter dieses Stück Müllers greift. Wie aktuell es noch immer ist und bleiben wird, so lange Macht um jeden Preis erkämpft und dann natürlich verteidigt werden muss.
Um diesen großen Bogen ist es dem Autor stets gegangen, vom Frühwerk „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ (1961) bis zur „Hamletmaschine“ (1977), worin der Shakespeare-Dramenstoff zu einer noch grausameren Tragödie wird, in der sich alles Humane selbst verschlingt.
Man kann das als tiefsten Geschichtspessimismus sehen - oder als einen Schrei nach Erlösung verstehen. Es spricht viel dafür, dass beide Interpretationen richtig sind. Müller war und ist extrem anstrengend. Billiger ist er nicht zu haben. Und gehört aus diesem Grund auf die Bühne.
„Widersprechen ist immer richtig. Ein Abend für Heiner Müller“, 8. Januar, 19 - 21 Uhr,
Literaturhaus Leipzig, Gerichtsweg 28
„Das Liebesleben der Hyänen: Heiner Müllers 90. Geburtstag“, 9. Januar, 20 - 21.30 Uhr,
Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1, Berlin