"Hauptsache viel" - "Panikherz" uraufgeführt

Berlin - Wie bringt man Kokssucht auf die Bühne? Mit lauter Musik, Stroboskoplicht - und im Zweifel Backpulver. Mit großem Jubel und Bravo-Rufen haben am Samstagabend fast 700 Zuschauer die starke Theaterfassung des autobiografischen Romans „Panikherz” von Benjamin von Stuckrad-Barre am Berliner Ensemble quittiert.
Der Intendant Oliver Reese setzte in seiner ersten Inszenierung in dieser Spielzeit auf viel Musik und die Sprachkunst von Stuckrad-Barres. Witz und Tragik liegen in der mehr als zweistündigen Theaterfassung so nah beieinander wie in dem 2016 veröffentlichten Buch, das zum Bestseller wurde.
Vier Schauspieler sind Benjamin von Stuckrad-Barre, ein Name, über den einer seiner ersten Mentoren sagt: Ein Pseudonym brauche er nicht, das klinge eh schon ausgedacht. Nico Holonics, Bettina Hoppe, Laurence Rupp und Carina Zichner spielen den heute 43-Jährigen.
Man sieht einen Pastorensohn in einem niedersächsischen Kaff, in dem nichts passiert, bis er Udo Lindenberg hört und vom Leben träumt: „Bars, Frauen, Amerika, Besoffensein”. Bald darauf einen so größenwahnsinnigen wie witzigen Musikkritiker, Autor, Moderator, und irgendwann einen Süchtigen - erst danach, Essen zu verschlingen und es rauszukotzen, dann nach Koks, das unterdrückt den Hunger. Schließlich den Geläuterten: Von Stuckrad-Barre zehn Jahre nach dem letzten Entzug, nüchtern, ein Bilanzierender im berühmten Hotel Chateau Marmont in Los Angeles, wo er den Roman aufgeschrieben hat, ermutigt von seinem Idol Lindenberg, mit dem er eng befreundet ist.
Das Bühnenbild besteht daher auch nur aus einem roten Perserteppich und einer Bar - so könnte es im Chateau Marmont am Sunset Boulevard aussehen oder im Hamburger Hotel Atlantic, wo Lindenberg ja seit Jahrzehnten wohnt.
Der nuschelnde Rocker, der immer ein bisschen betrunken klingt, ist die zweite große Figur, auch wenn man ihn nie sieht. Stattdessen dominieren seine Lieder den Abend und ziehen sich durch das Stück wie seine Songtexte durch den Roman, wo sie von Stuckrad-Barre immer wieder einfließen ließ.
Dass von Stuckrad-Barre selbst Lindenberg einst in Verrissen verlachte, hat der 71-Jährige ihm verziehen, auch wenn es am Anfang anders aussah: „Hi, hallöchen, Udolius hier, sag mal, dieser Schmierfink Stuckrad-Knarre, was der da für'n übles Ding im „Rolling Stone” abgepestet hat über mich, das geht ja nun gar nicht, ne, was ist'n das für'n Knilch?”, lautete eine nächtliche Ansage Lindenbergs auf dem Anrufbeantworter der Plattenfirma, für die von Stuckrad-Barre arbeitete.
Der Roman lebt von solchen Geschichten: Von Stuckrad-Barre schrieb Gags für den damaligen Late-Night-Talker Harald Schmidt, arbeitete für Moderator Friedrich Küppersbusch, hing mit Christian Kracht („Faserland”) oder Techno-DJ Westbam rum, trifft Bret Easton Ellis („American Psycho”), lässt sich von Element-of-Crime-Sänger Sven Regener beim Umzug helfen - das fast 600 Seiten starke Buch ist auch Promi-Zeitgeschichte. Fürs Theater blieben gerade mal 40 übrig.
Das Wesentliche aber ging nicht verloren. Neben Lindenberg dröhnen Nirvana, Oasis, Rammstein. Die Neunziger, das Früher, die Träume, die man mal hatte und das, was von ihnen übrig bleibt: Auch das ist ein großes Thema in „Panikherz”.
Der Schriftsteller besuchte das Ensemble, wie Intendant Reese der „B.Z.” sagte: „Er hat erzählt, was es in ihm ausgelöst hat, in so einem prunkvollen Theater sein eigenes Leben vorgespielt zu bekommen, er hat auch während der Probe geweint.”
Reese wechselt wie im Buch zwischen dem nüchternen von Stuckrad-Barre, der zurückblickt, und der Geschichte seines Lebens, die er zugleich erzählt. Das ist kurzweilig und von den Schauspielern stark verkörpert. Die Pointen sitzen, die Selbstironie von Stuckrad-Barres, der mit sich so gnadenlos ins Gericht geht wie mit allen, über die er sich lustig machte, kommt an. Auch wenn er seine Helden zitiert - etwa Helmut Dietl - lacht der Saal: „Am Ende wollen's alle nur a lichtdurchflutete Altbauscheiße.”
Neben der Komik gelingen auch die tragischen Momente, die irren des Süchtigen, der sich kratzt, der zappelt, der sich das Kokain in die blutigen Hände reibt und irgendwann selbst Pferdebetäubungsmittel schluckt - „Hauptsache viel.” Klar wird: Die Sucht hat nichts mit Feiern zu tun, autistisch sei das alles, sagt von Stuckrad-Barre, er redet von „nach innen-gerichtetem Irrsinn”.
Nach mehreren Entzügen trinkt er 2006 sein letztes Bier und lebt seitdem, wie er sagt, ohne Alkohol und Drogen. Allerdings nicht ohne Wehmut. In einem Interview erklärte er: „Das Prinzip Nacht bleibt das Schönste der Welt. Ich bleibe Fan der Nacht und der Entgrenzung. Wenn ich abends erlebe, die Leute schalten diesen Gang hoch, die trinken oder schmeißen sich irgendwas ein, dann erlebe ich schon diesen Schmerz, dass ich diese Rakete leider nicht mehr zünden kann.”
Der letzte Satz im Theater und Roman lautet: „Man muss aufpassen.” (dpa)